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Konferenzbericht – Die Ukraine im Wahljahr 2019: Tendenzen und Entwicklungen in Politik und Zivilgesellschaft

Die Ukraine befindet sich inmitten des „Super­wahl­jahres“ 2019 mit den kürzlich durch­ge­führten Präsi­dent­schafts­wahlen im März und den vorge­zo­genen Parla­ments­wahlen am 21. Juli 2019. Allen Voraus­sagen nach wird die Partei „Diener des Volkes“ des neuen Präsi­denten eine Mehrheit der Parla­ments­sitze erhalten und ihm eine große Macht­fülle verleihen. Vor dem Hinter­grund des fortdau­ernden Konflikts im Donbass und einer ambitio­nierten Reform­agenda muss sich Selenskyj nun beweisen.

Welche politi­schen Entwick­lungen zu erwarten sind und wie sich diese auf die Reform­be­mü­hungen und Außen­be­zie­hungen auswirken, war das Kernthema der Konferenz „Ukraine in the Election Year 2019: New Tendencies and Develo­p­ments in Politics and Civil Society“, zu der das Institut für Europäische Politik (IEP) am 12. Juni 2019 nach Berlin einlud. Als Teil des Projekts „Platform for Analytics and Inter­cul­tural Commu­ni­cation“ (PAIC) bot die Veran­staltung außerdem den Rahmen, erste Ergeb­nisse einer quali­ta­tiven Studie zu ukrai­ni­schen und deutschen Denkfa­briken vorzu­stellen, die vom Projekt PAIC durch­ge­führt wurde.

In ihren Eröff­nungs­state­ments lobten Dr. Katrin Böttger, Direk­torin am Institut für Europäische Politik, und Rostyslav Ogryzko, Gesandter der Botschaft der Ukraine in der Bundes­re­publik Deutschland, den freien und fairen Charakter der Präsi­dent­schafts­wahlen, die das Bekenntnis der Ukraine zur Demokratie unter­streiche. Das letzte Jahr habe zudem erste Resultate der Reform­an­stren­gungen sichtbar gemacht und die Zusam­men­arbeit zwischen Deutschland und der Ukraine intensiviert.

Friedens­si­cherung und Ukraine-EU-Bezie­hungen als außen­po­li­tische Priori­täten für Selenskyj

Deutschland sei ein wichtiger außen­po­li­ti­scher Partner für die Ukraine, erklärte Dr. Andreas Prothmann, Leiter des Arbeits­stabs Ukraine im Auswär­tigen Amt, und bekräf­tigte, dass die Zusam­men­arbeit mit den ukrai­ni­schen Partnern unter dem neuen Präsi­denten weiter­ge­führt werde. Die Verbes­serung der Lebens­si­tuation entlang der unmit­tel­baren Kontakt­linie stelle derzeit die höchste Priorität dar. Über längere Sicht müsse die Ukraine sich mit dem Thema der Gaspro­duktion und ‑verteilung sowie des Gastransits auseinandersetzen.

Alexander Hug, ehema­liger stell­ver­tre­tender Leiter der OSZE Beobach­ter­mission in der Ukraine, betonte, dass die Minsker Verein­ba­rungen nach fünf Jahren einer Neube­wertung dahin­gehend unter­zogen werden müssten, inwieweit ein Abzug von Waffen und Rückzugs­pläne einge­halten würden. Außerdem müsse die Inter­na­tionale Unter­stützung beibe­halten und das Wissen über den Konflikt gestärkt werden.

Mit Annähe­rungs­ver­suchen an Ungarn und Polen schlage Selenskyj zudem einen anderen Weg als dessen Vorgänger ein, erklärte Dr. Kateryna Zarembo, stell­ver­tre­tende Direk­torin des New Europe Centers. Dessen Antritts­besuch in Brüssel sei jedoch ein gutes Zeichen für eine proeu­ro­päische Konti­nuität in der Außen­po­litik und an der deutsch-ukrai­ni­schen Bindung werde derzeit gearbeitet. Außerdem habe er versprochen, mit seinen Medien­ka­pa­zi­täten für einen NATO-Beitritt in der Bevöl­kerung zu werben.

Dr. Katrin Böttger, Direk­torin am IEP, verwies auf die Bedeutung der Förderung der Zivil­ge­sell­schaft als wichtiger Treiber für die europäisch-ukrai­ni­schen Bezie­hungen und den ukrai­ni­schen Reform­prozess und betonte die Bedeutung des Assozi­ie­rungs­ab­kommens hierfür. Erschwerend sei jedoch, dass nach der EU-Parla­mentswahl, die zwei Drittel neuer Abgeord­neter ins Parlament brachte, alte Kontakte „nicht mehr länger gültig oder wertvoll“ seien und es daher wichtig sei, neue Verbin­dungen zeitnah herzustellen.

Klare Westori­en­tierung und Potenzial für den Reformkurs

Im Rahmen des zweiten Panels stellte Dr. Yuriy Yakymenko, stell­ver­tre­tender General­di­rektor der politi­schen und juris­ti­schen Programme des Razumkov-Centres, die innen­po­li­ti­schen Priori­täten Selen­skyjs vor, darunter die Erhöhung der Rechen­schafts­pflicht für Abgeordnete und Richter:innen, die Etablierung direkt­de­mo­kra­ti­scher Elemente, der Kampf gegen Korruption, eine inten­si­vierte Fortführung der Justiz­reform und die Digita­li­sierung von öffent­lichen Dienstleistungen.

Professor Oleksiy Haran, Dozent an der Kyiv Mohyla Academy und wissen­schaft­licher Direktor der Ilko Kucheriv Democratic Initia­tives Foundation, kriti­sierte den Kampa­gnenstil Selen­skyjs, die zum Teil populis­tische Äußerungen beinhaltete und zum Ziel gehabt hätte, das Parlament zu diskre­di­tieren. Anschließend ging Dr. Olena Pavlenko, Direk­torin des Think Tanks DiXi Group, auf den Stand der Imple­men­tierung der EU-Richt­linien im Energie­be­reich ein, erläu­terte die Positionen der Parteien und begrüßte die angestrebte Weiter­führung der Demono­po­li­sierung der Energiemärkte.

Desin­for­mation, die ukrai­nische Medien­land­schaft und die Kommu­ni­kation von Reformen 

Das dritte Panel beschäf­tigte sich mit politi­scher und öffent­licher Kommu­ni­kation und ging der Frage nach, mit welchen Heraus­for­de­rungen die Zivil­ge­sell­schaft und der Staat konfron­tiert werden. Wilfried Jilge, Associate Fellow der Deutschen Gesell­schaft für Auswärtige Politik, bestä­tigte die jüngsten Präsi­dent­schafts­wahlen als die freiesten und trans­pa­ren­testen Wahlen seit der ukrai­ni­schen Unabhän­gigkeit. Gleichwohl folge Selen­skyjs Kommu­ni­kation einem binären Narrativ und es herrsche ein Mangel an unabhän­gigen journa­lis­ti­schen Berichten. Um Desin­for­ma­ti­ons­kam­pagnen und tenden­ziöse Bericht­erstattung wirksam zu bekämpfen, bedürfe es an Fakten­prüfung und der Entlarvung von Falsch­nach­richten, insbe­sondere auch mit Blick auf russische Medien, mahnte Stop Fake-Mitbe­gründer Ruslan Deynychenko.

Natalia Popovych, Mitbe­grün­derin des Ukraine Crisis Media Centers, kriti­sierte die Dominanz und vorein­ge­nommene Bericht­erstattung der „Oligar­chen­medien“ und zeigte, wie sich die Kommu­ni­kation politi­scher Vorhaben auf deren Imple­men­tierung auswirke. So sei im Falle der Dezen­tra­li­sie­rungs­reform die Kommu­ni­kation effektiv verlaufen und habe zu einer hohen Zustim­mungsrate in der Bevöl­kerung für diese Reform geführt, was zur erfolg­reichen Umsetzung der Reform beigetragen habe, während es im Kampf gegen Korruption mangelnde Kommu­ni­kation und damit weniger Engagement gegeben hätte.

Think Tanks in der Ukraine: Gesell­schaft­liche Rolle und Entwicklungsmöglichkeiten

Das letzte Panel widmete sich ukrai­ni­schen und deutschen Denkfa­briken und stellte erste Ergeb­nisse der verglei­chenden quali­ta­tiven Studie des Projekts PAIC vor. Dr. Iryna Bekeshkina, Direk­torin der Ilko Kucheriv Democratic Initia­tives Foundation, unter­strich die Bedeutung der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft für die Umsetzung politi­scher Reformen, die durch ihre Analysen, Advocacy-Arbeit und mediale Präsenz Einfluss auf die Politik ausüben könnten. Ein wesent­licher Unter­schied zu ukrai­ni­schen Denkfa­briken, die vor allem eine breite Öffent­lichkeit erreichen wollen, sei, dass deutsche Think Tanks sich vornehmlich an Entscheidungsträger:innen und spezielle Zielgruppen richteten, so Mona Richter, wissen­schaft­liche Mitar­bei­terin am Institut für Europäische Politik.

Ljudmyla Melnyk, wissen­schaft­liche Mitar­bei­terin am Institut für Europäische Politik, fügte hinzu, dass eine funda­mentale Heraus­for­derung für ukrai­nische Organi­sa­tionen die Abhän­gigkeit von Geldgebern sei, die sowohl die thema­tische Ausrichtung als auch die insti­tu­tio­nelle Struktur beein­flussten. Dies werfe die Frage auf, wie die insti­tu­tio­nelle Nachhal­tigkeit und langfristig auch die Unabhän­gigkeit ukrai­ni­scher Think Tanks besser gefördert werden könnte. Dr. Tymofiy Brik, Professor an der Kyiv School of Economics und Aufsichts­rat­vor­sit­zender von CEDOS, sieht vor allem in der Vernetzung einzelner Organi­sa­tionen großes Potential. So könnten medial und journa­lis­tisch tätige Organi­sa­tionen die Reich­weite der Analysen von Forschungs­in­sti­tuten bedeutend erhöhen.

Das Programm der Konferenz ist hier online abrufbar.


Die Konferenz fand im Rahmen des Projekts „Platform for Analytics and Inter­cul­tural Commu­ni­cation“ (PAIC) statt, das die Förderung der ukrai­ni­schen Think Tank Landschaft, den Austausch zwischen deutschen und ukrai­ni­schen Analy­se­zentren und den Wissens­transfer über politische Prozesse in der Ukraine nach Deutschland zum Ziel hat. PAIC wird vom Institut für Europäische Politik (IEP, Berlin) in enger Zusam­men­arbeit mit der Ilko Kucheriv Democratic Initia­tives Foundation (DIF, Kyiv), der Denkfa­bri­ken­in­itiative „think twice UA“ (Kyiv) und mit freund­licher Unter­stützung durch das Auswärtige Amt durchgeführt.