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IEP-Mittagsgespräch mit Martin Schulz am 18. März 2005: “Die Zukunft Europas: Verfassung, Erweiterung, Finanzpaket und die Rolle des Europäischen Parlaments ”

Die finan­zielle Voraus­schau für die Jahre 2007 bis 2013 wird derzeit von den Staats- und Regie­rungs­chefs der EU-Mitglied­staaten intensiv debat­tiert. Für die Forderung der deutschen Regierung nach einer Deckelung der Ausgaben auf maximal 1 Prozent des Brutto­na­tio­nal­ein­kommens zeigt Martin Schulz, MdEP, Vorsit­zender der Fraktion der Sozial­de­mo­kra­ti­schen Partei Europas (SPE), zwar Verständnis, doch vermisst er sowohl bei Netto­zahler- als auch bei Netto­emp­fän­ger­ländern konkrete Hinweise auf eine mögliche Umschichtung der Mittel im EU-Haushalt. Eine Senkung der Ausgaben wäre nur durch Strei­chungen oder Reformen in der Struktur‑, und Agrar­po­litik möglich. Welche Zielset­zungen die Regie­rungen der EU-Mitglied­staaten aller­dings genau verfolgen bleibe vielfach unaus­ge­sprochen. Dabei verlange gerade die Umsetzung der Lissabon-Strategie nach einer konse­quenten Umschichtung der Haushalts­mittel. Zur Sicherung von Wachstum und Arbeit und zur Förderung von Zukunfts­tech­no­logien müsste die EU ausrei­chend finan­zielle Mittel zur Verfügung stellen. Diese Absicht hatten am Vortag die Fraktionen von SPE und EVP in einer Resolution zur Lissabon-Strategie mit großem Einver­nehmen bekräftigt. Noch unter luxem­bur­gi­scher Präsi­dent­schaft, also im ersten Halbjahr 2005, erwartet Schulz eine Einigung über die finan­zielle Voraus­schau und den Stabi­litäts- und Wachstumspakt.

Neben den finan­zi­ellen Zukunfts­fragen sorgt die noch unter Kommis­si­ons­prä­sident Prodi vorge­schlagene sogenannte „Bolke­stein-Richt­linie“ für europäische Diskus­sionen. Die SPE sei, so Schulz, um eine syste­ma­tische Prüfung bemüht, damit eine Unter­wan­derung natio­naler Sozial- und Schutz­stan­dards durch diese neue Dienst­leis­tungs-Richt­linie verhindert werde. Doch mit Blick auf Frank­reich stellt Schulz einen stärker werdenden allge­meinen Trend zur Ablehnung der Europäi­schen Verfassung fest, der unter anderem mit der Kritik an der geplanten Dienst­leis­tungs-Richt­linie verbunden werde.

Schulz bedauert, dass derzeit in Frank­reich innen­po­li­tische Themen und Unzufrie­denheit mit der Verfas­sungs­frage verknüpft werden. Das europäische Projekt werde so von politi­schen Entschei­dungs­trägern zu innen­po­li­ti­schen Zwecken missbraucht. Grund­sätzlich berge jedes Referendum die Gefahr einer „Denkzettel-Abstimmung“ gegen die Regierung; ein Scheitern des Referendums zur Europäi­schen Verfassung am 29. Mai in Frank­reich würde jedoch wegen der europa­po­li­ti­schen Bedeutung des Landes impli­zieren, dass „man nicht einfach weiter machen kann wie bisher“. Eine Ablehnung in Frank­reich würde zudem aller Wahrschein­lichkeit nach weitere negative Referenden zur Folge haben.

Die Kommu­ni­ka­ti­ons­linie der EU beinhalte zahlreiche Schwächen, die sich nun in Frank­reich besonders negativ bemerkbar machten. So sei den Ängsten der franzö­si­schen Bevöl­kerung vor einem neoli­be­ralen Europa nicht ausrei­chend begegnet worden. Schulz betont, dass mit der Verfassung zahlreiche sozialere Regelungen gegenüber dem derzeit gültigen Nizza-Vertrag einge­führt würden. Nur durch die in der Verfassung vorge­se­henen insti­tu­tio­nellen Neuerungen könnten die ökono­mische Integration und eine europäische Außen­po­litik in der erwei­terten Union gestärkt werden.

Schulz erinnerte angesichts der zurück­lie­genden Erwei­te­rungs­runden an das positive ökono­mische und demokra­tische Entwick­lungs­po­tential in neuen Mitglied­staaten. Die Fortschritte in den ehema­ligen Dikta­turen Spanien, Portugal und Griechenland machten den neuen Mitglied­staaten Mittel- und Osteu­ropas Hoffnung. Das viel beschworene europäische Friedens-Modell habe auch in der heutigen Zeit noch seine Berech­tigung. Schulz bedauert, dass gerade die junge Generation das „Faszi­nosum des Friedens­ga­ranten“ EU kaum mehr teile. Dennoch habe sich im Rahmen des Irak-Kriegs die Bedeutung einer europäi­schen Außen­po­litik als Friedens­po­litik bewahr­heitet. Das „multi­na­tionale, multi­l­in­guale und multi­kul­tu­relle europäische Demokra­tie­modell“ stelle eine sinnvolle Alter­native zu anderen „börsen­ge­trie­benen“ Modellen dar. Der weitere Aufbau einer europäi­schen Sicher­heits­po­litik, die langfristig nicht mehr von militä­ri­schen Mitteln der Bündnis­partner abhängig sein solle, bleibe ein entschei­dendes Ziel europäi­schen Handelns.

Mit Blick auf die aktuelle Erwei­te­rungs­po­litik der EU bezeichnete Schulz eine Aussetzung der Verhand­lungen mit Rumänien als falsch und kaum zu begründen. Im Zweifelsfall müsse die EU „Safe-Guard-Klauseln“ anwenden. Er begrüßte hingegen, dass die EU vor dem Hinter­grund der politi­schen Kriterien von Kopen­hagen und des Stabi­li­sie­rungs- und Assozi­ie­rungs­pro­zesses den Beginn von Beitritts­ver­hand­lungen mit Kroatien vertagt hat. Diese Verschiebung sei ein bedeu­tender Präze­denzfall, der ein konse­quentes Verhalten gegenüber der Türkei oder der Ukraine in Zukunft erleichtern werde. Auf diese Weise blieben die Werte­ordnung der EU und ihre rechts­staat­lichen Prinzipien die entschei­denden Kriterien europäi­scher Erweiterungspolitik.