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IEP-Mittagsgespräch mit Dr. Klaus Scharioth am 8. Juni 2005: “Aktuelle Fragen zur Europapolitik”

Der Staats­se­kretär des Auswär­tigen Amts Dr. Klaus Scharioth, Staats­se­kretär des Auswär­tigen Amts, betonte, dass die negativen Ergeb­nisse der Referenden in Frank­reich und den Nieder­landen zwar einen Rückschlag für die Ratifi­zierung der Europäi­schen Verfassung, nicht aber das Ende des Europäi­schen Integra­ti­ons­pro­zesses bedeu­teten. Vordring­lichste Aufgabe sei es nun, die vielschich­tigen Gründe für die Ablehnung der Verfassung zu analy­sieren und jegliche „Kakophonie“ zwischen den natio­nalen Regie­rungen zu vermeiden. Die deutsche Bundes­re­gierung ist ebenso wie die Mehrheit der EU-Mitglied­staaten entschlossen, den Ratifi­zie­rungs­prozess zum Europäi­schen Verfas­sungs­vertrag fortzu­führen, da die Argumente der „Nein“-Wähler sich weniger gegen den Verfas­sungstext als gegen innen­po­litsche und allgemein europa­po­li­tische Probleme richteten. Scharioth hält daher auch eine stärkere Vermittlung der „großen Themen“ der Europäi­schen Integration in der Öffent­lichkeit für notwendig. Die Bedeutung der EU bei der Überwindung der europäi­schen Teilung und der Sicherung des konti­nen­talen Friedens würden noch immer zu wenig geschätzt.

Jeder EU-Mitglied­staat müsse nun die Gelegenheit haben, den Vertrag zu ratifi­zieren, erläu­terte Staats­se­kretär Scharioth. Auch könnten nicht jene Staaten übergangen werden, die den Vertrag bereits mit zum Teil überra­genden Mehrheiten ratifi­ziert haben. Er fordert die Bewahrung des Verfas­sungs­textes (VVE), da Neuver­hand­lungen kaum zu besseren Ergeb­nissen führten und eine vorschnelle Zerstü­ckelung des Vertrags­textes nur Minima­l­ergeb­nisse produ­ziere, die die grund­le­genden Fortschritte des VVE (z.B. stärkere Demokra­ti­sierung, Trans­parenz, Grund­rechte-Charta, Europäi­scher Außen­mi­nister) gefähr­deten. Das Erreichen einer einheit­lichen Position der EU-Mitglied­staaten zum weiteren gemein­samen Umgang mit dem Verfas­sungs­vertrag sei nun entscheidend.

Wünschenswert sei auch eine Einigung des Europäi­schen Rates in der nächsten Woche auf eine finan­zielle Voraus­schau ab 2007. Die Bundes­re­gierung sei bereit, sich in der Frage der 1‑prozentigen Begrenzung der BSP-Eigen­mittel auf andere Mitglied­staaten zu zubewegen, aber es müsse auch auf deren Seite Kompro­miss­be­reit­schaft vorhanden sein. Zudem sei der britische Sonder­rabatt im Blick auf die „drama­tisch“ verän­derte relative Wohlstands­si­tuation mancher Mitglied­staaten nicht mehr gerecht­fertigt. Nicht nur das in der Wohlstands­sta­tistik aufge­stiegene Großbri­tannien, sondern auch Netto­emp­fänger-Länder mit erheb­lichem Wirtschafts­wachstum im letzten Jahrzehnt wie beispiels­weise Spanien müssten nun bereit sein, eine Neube­wertung der Umver­tei­lungs­kri­terien zu ermöglichen.

Im Hinblick auf die Erwei­te­rungs­po­litik der EU bedauert Staats­se­kretär Scharioth, dass die enormen politi­schen Stabi­li­täts­ge­winne der letzten Erwei­te­rungs­runde von Ängsten und Sorgen in der Bevöl­kerung überlagert würden, obwohl die Mitglied­schaft der neuen EU-Staaten zu einer Dynami­sierung der deutschen Exporte geführt habe. Allein im vergan­genen Jahr ist der deutsche Waren-Export in die neuen Mitglied­staaten um 8,5 Prozent gestiegen. Die Bundes­re­gierung lehne die zeitliche Verzö­gerung der Beitritte Bulga­riens und Rumäniens ab und befür­worte auch eine kroatische EU-Mitglied­schaft bei Vorliegen der entspre­chenden Voraus­set­zungen. Eine Beitritts­per­spektive sei zudem zur Unter­stützung der Reform­pro­zesse in der Türkei unerlässlich, wobei Verhand­lungen keinen Beitritts­au­to­ma­tismus bedeu­teten. Auch eine Stabi­li­sierung des Balkans sei ohne Beitritts­per­spektive undenkbar.

Abschließend betonte der Staats­se­kretär, dass mit gängigen Vorur­teilen über die deutsche Europa­po­litik aufge­räumt werden müsse. Heute gelinge es unter Feder­führung des Auswär­tigen Amts und des BMF in enger Abstimmung mit dem Bundes­kanz­leramt europa­po­li­tische Koordi­nierung immer effizi­enter zu betreiben. Dies habe über die Absprachen im Staats­se­kre­tärs­aus­schuß auch zu einer Überwindung der früheren Schwäche Deutsch­lands bei der Imple­men­tierung von EU-Richt­linien geführt, so dass Deutschland heute in der Imple­men­tie­rungs­skala relativ weit vorne liege.