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Tagung “EU 25: Rückblick und Ausblick auf die Erweiterung”

Zehn Tage nach dem offizi­ellen Beitritt der acht ost- und mittel­eu­ro­päi­schen Länder sowie Maltas und Zyperns wurde im Rahmen der Konferenz “Die EU-25: Rückblick und Ausblick auf die Erwei­terung” am Institut für Europäische Politik eine erste Bilanz der letzten Erwei­te­rungs­runde gezogen. Die Tagung leitete Elmar Brok, Europa­ab­ge­ord­neter und Vorsit­zender der Studi­en­gruppe “Erwei­terung” des IEP. Die erste Panel­dis­kussion befasste sich mit einem Rückblick auf den Beitritts­prozess. Welche Lehren haben die EU und ihre bishe­rigen 15 Mitglied­staaten, aber auch die zehn neuen Mitglieder aus dem Beitritts­prozess gezogen” Das zweite Panel richtete den Blick nach vorn. Es setzte sich mit den Heraus­for­de­rungen des anste­henden Beitritts von mindestens zwei weiteren Ländern, Rumänien und Bulgarien, sowie mit der noch in diesem Jahr ausste­henden Entscheidung über die Eröffnung von Beitritts­ver­hand­lungen mit der Türkei und mit den Perspek­tiven für die Länder des westlichen Balkans auseinander.

Panel 1Zum Auftakt forderte Elmar Brok die Referenten und Teilnehmer auf, die im Zusam­menhang mit den Feiern zur Erwei­terung geäußerten optimis­ti­schen Einschät­zungen der “Sonntags­reden” zu beher­zigen, aber auch die Defizite des Erwei­te­rungs­pro­zesses nicht zu vergessen und beide Seiten mit Blick auf kommende Beitritte auszuwerten.

Vladimir Handl vom Institute of Inter­na­tional Relations in Prag konzen­trierte sich auf das Verhältnis zwischen dem Trans­for­ma­ti­ons­prozess der post-kommu­nis­ti­schen Ökonomien und Gesell­schaften und dem Annäh­rungs­prozess an die EU. Am Beispiel der Tsche­chi­schen Republik zeigte er, dass sich zu Beginn der 1990er Jahre beide Prozesse insofern unter­schieden hätten, als dass sich der von der tsche­chi­schen Regierung gewählte Trans­for­ma­ti­onskurs nicht prioritär an den Anfor­de­rungen eines EU-Beitritt orien­tiert und zu diesen teilweise sogar im Wider­spruch gestanden habe. Handl führte zudem aus, dass erst gegen Mitte der 1990er Jahre, einher­gehend mit ökono­mi­schen Schwie­rig­keiten der Tsche­chi­schen Republik, ein Perspek­ti­ven­wandel zugunsten einer stärkeren Orien­tierung an einem Beitritt zur EU einge­setzt habe. Aus der Sicht der Beitritts­kan­di­daten seien die Ungenau­igkeit der Kopen­ha­gener Beitritts­kri­terien nachteilig gewesen, da die Kommission mit diesen keine genauen Vorgaben gemacht oder Anfor­de­rungen an den Trans­for­ma­ti­ons­prozess in den Staaten gestellt, aber dennoch konkrete Fortschritte erwartet habe. Diese Schieflage sei zum Teil durch die Einführung des Monitoring mittels der regel­mä­ßigen Fortschritts­be­richte der Kommission behoben worden. Besonders der Bericht aus dem Jahre 1999 habe in der Tsche­chi­schen Republik eine Schock­wirkung erzielt und dadurch die insti­tu­tio­nellen und adminis­tra­tiven Anpas­sungen erheblich beschleunigt. Zum Abschluss betonte Handl das Versäumnis der tsche­chi­schen Medien, die EU als dynamische Insti­tution mit vielen Vorteilen darge­stellt zu haben. Momentan beherrsche vorrangig das Wohlstands­ge­fällte zwischen Ost und West die Bericht­erstattung in den Medien, während eine konstruktive Debatte, zum Beispiel über die Finalität der EU, gar nicht statt­fände. Insgesamt betonte Handl jedoch, dass durch den Beitritts­prozess nicht nur die Kandi­da­ten­länder, sondern die EU-25 allgemein, viel über sich selbst gelernt hätten, was einen guten Einstieg in das “neue Europa” darstelle.

Handl/LippertBarbara Lippert, stell­ver­tre­tende Direk­torin des Instituts für Europäische Politik, stellte vier zentrale Punkte der EU-Erwei­te­rungs­po­litik in den Vorder­grund ihrer Präsen­tation. Sie unter­strich, dass das Ja der EU zur Osterwei­terung ein Ausdruck der kollek­tiven politi­schen Identität der EU gewesen sei und auf der allseits perzi­pierten histo­ri­schen Zugehö­rigkeit der Beitritts­länder zu Europa beruhte. Während die wirtschaft­lichen Motive eher in den Hinter­grund traten, habe das Interesse an einer Stabi­li­sierung der unmit­tel­baren Nachbarn durch die Erwei­terung der EU gegen Ende der 90er Jahre an Bedeutung gewonnen (Stichwort Kosovo-Krieg und Europäi­scher Rat in Helsinki). In einem zweiten Punkt zeigte Lippert, dass die EU auch in diesem Erwei­te­rungs­prozess nicht von den Prinzipien vorhe­riger Runden abgewichen sei: So sei etwa die Übernahme des Acquis trotz der spezi­ellen politi­schen und ökono­mi­schen Situation in den postkom­mu­nis­ti­schen Ländern nicht verhan­delbar gewesen und das Ziel einer gleich­zei­tigen Vertiefung (Amsterdam, Nizza, Konvent) nicht aufgeben worden. Eben da läge jedoch die “Achil­les­ferse” des Prozesses, denn weder sei ein Gesamt­ansatz für die Doppel­stra­tegie Vertiefung und Erwei­terung, noch Einigkeit über den “Preis”, der für die Erwei­terung zu zahlen sein werde, im Kreis der EU-15 gefunden worden. Anstatt die EU wirklich für die Erwei­terung fit zu machen, seien insti­tu­tio­nelle, struk­tur­po­li­tische und Budget­re­formen bis heute von einem Gipfel auf den nächsten vertagt worden und seien zum Teil heute noch ungelöst. Schließlich unter­strich Lippert den Erfolg der maßgeblich von der Kommission gestal­teten Heran­füh­rungs­stra­tegie, die nachhaltige Bedeutung für die Unter­stützung von Stabi­li­sie­rungs­pro­zessen in Trans­for­ma­ti­ons­ländern haben könne.

Józef Olszynski, Gesandter der polni­schen Botschaft in Berlin, hob in seinem Beitrag den Mangel an kultu­rellen und identi­täts­stif­tenden Aspekten des Erwei­te­rungs­pro­zesses hervor, der vorrangig von ökono­mi­schen und politi­schen Debatten begleitet gewesen sei. Zudem seien die Debatten in den Medien der EU-15 von Stich­wörtern wie “Arbeits­platz­export” oder “einseitige Finanz­mit­telum­ver­teilung nach Osten” beherrscht gewesen, welche auf der Seite der Kandi­daten als ungerecht­fertigt empfunden worden seien. Außerdem betonte Olszynski, dass im Zusam­menhang mit der Finali­täts­de­batte der EU und vor dem Hinter­grund der Geschichte des polni­schen Staates die Bereit­schaft zu einer weiteren Abgabe von Souve­rä­nität auf polni­scher Seite sehr gering sei. Man erhoffe sich eine Konso­li­die­rungs­phase der Union, die sowohl die Anzahl der Mitglied­staaten als auch die insti­tu­tio­nellen und verfah­rungs­tech­ni­schen Struk­turen umfassen soll.

Olszynski/JessenChristoph Jessen, Minis­te­ri­al­di­rigent und Beauf­tragter für Bezie­hungen zu den EU-Mitglied­staaten der Europa­ab­teilung des Auswär­tigen Amts, betonte die histo­rische Dimension der Erwei­terung einer auf den Werten der Aufklärung — Demokratie, Menschen- und Bürger­rechte etc. — beruhenden Europäi­schen Union. Zum ersten Mal in der Geschichte des Konti­nents würde dieser nicht durch Waffen­gewalt geeint, sondern garan­tierten freiwillige und gleich­be­rech­tigte Verhand­lungen im Rahmen des klar geregelten Recht­set­zungs­pro­zesses der EU dauerhaft ökono­misch fruchtbare und vor allem fried­liche Bezie­hungen zwischen den einzelnen Staaten.

Die anschlie­ßende Debatte war vorrangig von der Zustimmung zum histo­risch einma­ligen Charakter der Osterwei­terung und dem “Identi­täts­motiv” bestimmt. Es wurde aller­dings auch der angespro­chenen Mangel einer kultu­rellen Dimension der Erwei­terung kriti­siert, das Scheitern der Regie­rungs­kon­ferenz über den Europäi­schen Verfas­sungs­vertrag im Dezember 2003 thema­ti­siert, sowie die Frage nach den aus einer Nicht-Ratifi­zierung resul­tie­renden Konse­quenzen gestellt.

 
Panel 2Das Thema des zweiten Panels war die Fortsetzung des Erwei­te­rungs­pro­zesses und die neue Nachbar­schafts­po­litik der EU.
Angelica Schwall Düren MdB, stell­ver­tre­tende Vorsit­zende der SPD-Bundes­tags­fraktion, betonte, dass schon in früheren Betritts­runden das Spannungs­ver­hältnis von Erwei­terung und Vertiefung zum Tragen gekommen sei. Sie stellte die Frage, wie die Funkti­ons­fä­higkeit einer erwei­terten Union erhalten und die neuen Heraus­for­de­rungen und die steigende Komple­xität der Union gemeistert werden können. Neue Koali­tionen zur Vorab­stimmung und Vorbe­reitung seien einer­seits notwendig, anderer­seits würden sie die Gefahr der Zersplit­terung der EU bergen. Um einen “integration overst­retch” der EU und enttäuschte Hoffnungen von Seiten poten­ti­eller Kandi­daten zu vermeiden, sei eine weitere Erwei­terung der EU mit Vorsicht anzugehen.

András Orgovanyi, Gesandter der Botschaft der Republik Ungarn, sah die Vertiefung der Union und ihre Erwei­terung als durchaus zu verein­ba­rende Prozesse ” schließlich seien die Reform­schwie­rig­keiten des letzten Jahrzehnts nicht durch die Beitritts­länder verur­sacht worden. Sehr wohl seien die neuen Mitglieds­länder auch an einer Weiter­ent­wicklung der EU inter­es­siert: Ungarn z.B. setzte sich im Konvent dafür ein, dass der Schutz der Minder­heiten verfas­sungs­rechtlich besser verankert werde. Das Land übernähme zudem eine aktive Motor-Rolle bezüglich weiterer Erwei­te­rungs­runden ” beispielhaft dafür nannte er den Szeged ” Prozess gegenüber Serbien und Montenegro.

Franz-Lothar Altmann von der Stiftung Wissen­schaft und Politik argumen­tierte in seinem Vortrag, dass die EU ” auch aus Eigen­in­teresse ” Richtungs­anker für die Länder des westlichen Balkans sein müsse. Während einer­seits eine Beitritts­per­spektive der Schlüssel zur Stabi­li­sierung der Region sei, berge anderer­seits die zeitliche Ferne dieser Perspektive die Gefahr der Desta­bi­li­sierung, da sie zu Frustration und Blockaden innerhalb der Kandi­da­ten­länder führen könne. Insofern schlägt er vor, mehr formale Zwischen­ziele und einen stufen­weisen Prozess des “phasing in” einzu­führen, um die Länder Schritt für Schritt zu stabi­li­sieren und zu entwi­ckeln, ohne eine Mitglied­schaft auszuschließen.

Auch Andreas Görgen aus dem Referat EU-Außen­be­zie­hun­gen/Er­wei­terung des Bundes­kanz­ler­amtes sah im Beitritt der zehn neuen Staaten die Chance, die Heraus­for­de­rungen der neuen Nachbar­schaften und der kommenden Erwei­te­rungen konstruktiv zu lösen und neue Trenn­linien in Europa zu verhindern. In Zukunft müsse die EU jedoch mehr als bisher nicht nur auf die recht­lichen Voraus­set­zungen, sondern auch auf die adminis­trative Umsetzung ihrer Vorgaben achten ” und dies besonders im Falle der Türkei. Zudem müsse sich die EU ihrer strate­gi­schen Inter­essen bezüglich der Gestaltung des Konti­nents bewusst werden.

In der anschlies­senden Diskussion wurde betont, dass sowohl Legiti­mität und Homoge­nität innerhalb der EU, als auch deren Absorp­ti­ons­fä­higkeit durch grenzenlose Erwei­terung bedroht seien. Die Union von heute sei noch nicht reif genug, um eine starke geostra­te­gische Rolle in Europa zu übernehmen. Eine einst­weilige Beschränkung auf die Heran­führung der Nachbar­staaten an den Binnen­markt und die vier Freiheiten seien zur heutigen Stunde vielleicht der erfolgs­ver­spre­chendere Weg.
Daniela Kietz und Suzana Radiic


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