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Rezension des Jahrbuchs der Europäischen Integration 2016

Das Jahrbuch 2016 setzt die seit 1980 bestehende Tradition fort und legt einen umfas­senden, verläss­lichen und äußerst materi­al­reichen Sachstands­be­richt über die jüngsten Entwick­lungen der Integra­ti­ons­ge­mein­schaft EU vor. Es erweist sich damit erneut als ein sehr wichtiges Standard- und Nachschla­gewerk und unver­zicht­bares Arbeits­in­strument für die Europaforschung.

Die Anordnung der fest etablierten acht Rubriken wurde diesmal verändert; so findet sich nach der „Bilanz“ (1) und den „Insti­tu­tionen der Europäi­schen Union“ (2) das Kapitel „Die politische Infra­struktur“ bereits an dritter Stelle. Es folgen die sehr ausdif­fe­ren­zierten Rubriken zur Innen­po­litik (4) mit 23 Beiträgen und zur Außen­po­litik (5) der Europäi­schen Union mit 16 Beiträgen. Vorge­zogen wurden auch die Themen „Erwei­terung“ und „Die Europäische Union und andere Insti­tu­tionen“, sodass im Jahrbuch 2016 die Beiträge zur Europa­po­litik jedes einzelnen EU-Mitglied­staates an achter und letzter Stelle platziert sind. Dies ist eine begrü­ßens­werte Verän­derung, weil sie nun alle die EU-Ebene betref­fenden Rubriken zusam­menhält, bevor in die mitglied­staat­liche Ebene „hinab­ge­stiegen“ wird. 2016 erstmals neu in die Rubrik „Erwei­terung“ aufge­nommen ist ein Beitrag zum Kosovo (von Tobias Flessenkemper).

Die über 100 Autoren arbeiten zumeist schon sehr lange an der Erstellung des Jahrbuchs mit; sie bringen somit eine jährlich fortge­schriebene Expertise ein und tragen auf diese Weise zur Konti­nuität und hohen Qualität des Standard­werkes bei.

Weil das Jahrbuch grund­sätzlich auf zeitnahe, aktuelle Infor­ma­tionen und Entwick­lungen fokus­siert, ist der vorlie­gende Bericht über das jüngste Integra­ti­ons­ge­schehen1 geprägt von der anhal­tenden „Polykrise“ (dieser treff­liche Begriff stammt von Kommis­si­ons­prä­sident Jean-Claude Juncker), vor allem der Staats­schul­den­krise in der Eurozone sowie der Flücht­lings­krise, weiterhin vom Brexit-Votum im Verei­nigten König­reich sowie dem Aufstieg europa­skep­ti­scher bis europa­feind­licher, rechts­po­pu­lis­ti­scher oder gar rechts­extremer Kräfte, die zu einer tiefen Vertrau­ens­krise in der EU geführt haben. Kurz: Der Band legt vielfäl­tigst Zeugnis ab von dem annus horribile 2016, das die EU extrem belastet und verun­si­chert hat.

So sei hier bespielhaft der Beitrag „Die Europa­po­litik in der wissen­schaft­lichen Debatte“ von Darius Ribbe und Mither­aus­geber Wolfgang Wessels erwähnt, der als aktuelle Themen der Europa­for­schung u.a. „Deutschland als europäi­scher Hegemon“, „Desin­te­gra­ti­ons­an­sätze“, die „diffe­ren­zierte Integration“ sowie „Euroskep­ti­zismus und (Rechts)-Populismus“ nennt (S. 23–42). Damit wird die vorherr­schende, im wesent­lichen negative Stimmung ebenso erfasst wie in der Unter­su­chung der „öffent­lichen Meinung“ (Thomas Petersen, S. 181–190), die insgesamt ein düsteres Bild zeichnet, zum Schluss aber den Meinungs­um­schwung, der sich inzwi­schen europaweit nach dem Brexit-Votum einge­stellt hat, bereits erfasst.

Auch im großen Block, der den einzel­staat­lichen Europa­po­li­tiken gewidmet ist, lassen sich sehr zahlreich, deutlich und detail­liert die für die EU äußerst negativen Auswir­kungen von Populismus, Vertrau­ens­krise und unzurei­chendem Krisen­ma­nagement nachver­folgen. Demge­genüber können vor allem die vielen Beiträge zur Innen­po­litik der EU belegen, dass auch ein Europa im Krisen­modus arbeits­fähig ist und in diesen ausdif­fe­ren­zierten Politik­feldern das europäische Projekt durchaus voran­zu­treiben vermag. Gerade hier findet der Europa­for­scher wertvolle Infor­ma­tionen zum jewei­ligen letzten Stand der Entwicklungen.

Selbst­redend greift auch der Gastbeitrag des Jahrbuchs 2016 eine für den Berichts­zeitraum exempla­rische Debatte auf: So befassen sich in vorlie­gender Ausgabe Simon Bulmer und William Paterson mit Deutsch­lands neuer Rolle in der EU (S. 43–54). Beide Autoren haben in den letzten Jahren die Debatte über eine deutsche Hegemonie in und über Europa maßgeblich geprägt.2 Im Jahrbuch schreiben sie: „Der Ausdruck ‚wider­wil­liger‘ Hegemon bringt die wesent­lichen Züge der neuen Rolle Deutsch­lands auf den Punkt“ (S. 45). In ihren weiteren Ausfüh­rungen beziehen sie die Rolle Deutsch­lands als reluctant hegemon vor allem auf die Eurokrise, während sie im Falle der Flücht­lings­krise von Deutschland als einem „liberalen Hegemon“ sprechen, der aller­dings nur wenig Gefolg­schaft erfahren habe (S. 53).

Es ist der EU zu wünschen, dass das Jahrbuch 2017 einen optimis­ti­scheren Grund­tenor wird aufweisen können. Bis dahin aber wird inter­es­sierten Studie­renden und Forschern das vorlie­gende Jahrbuch reich­hal­tiges Material anbieten, um Ausmaß und Abgrund der Polykrise zu erfassen – und Orien­tierung bieten bei dem Entschluss: Nie wieder, nie wieder darf das Integra­ti­ons­projekt so sehr gefährdet werden wie im Berichts­zeitraum. Daran schließt sich auch ein Vorschlag an die Heraus­geber an: In das nächste Jahrbuch sollte ein Beitrag zu den neuen, zivil­ge­sell­schaft­lichen, pro-europäi­schen Bewegungen wie „Stand up for Europe“ oder „Pulse of Europe“ aufge­nommen werden.

Autorin:
Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet
Jean-Monnet Lehrstuhl für Europa­for­schung und Inter­na­tionale Beziehungen
Univer­sität Würzburg

1 De facto deckt vorlie­gende Ausgabe den Zeitraum vom zweiten Halbjahr 2015 bis zum Ende des ersten  Halbjahrs 2016 ab.

2 Bulmer, Simon/Paterson, William Germany‘s European role:Germany as the EU‘s reluctant hegemon ? Of economic strength and political constraints, in: Journal of European Public Policy, Volume 20, 2013. S. 1387–1405.