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Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld, Herausgeber des Jahrbuchs der Europäischen Integration

Im Dezember ist das Jahrbuch der Europäi­schen Integration 2016 erschienen. Es bilan­ziert seit 1980 zeitnah und detail­liert den europäi­schen Integra­ti­ons­prozess in rund 100 Beiträgen von verschie­denen Autorinnen und Autoren in ihren jewei­ligen Forschungs­schwer­punkten. Die Jahrbücher und damit über drei Jahrzehnte europäi­scher Zeitge­schichte stehen zudem unter www.Wissen-Europa.de online zur Verfügung. 

Sie sind zusammen mit Prof. Dr. Wessels Herausgeber des Jahrbuchs der Europäischen Integration 2016. Was können Sie mir über den Entstehungsprozess berichten?

Als Wolfgang Wessels und ich die Initiative ergriffen, dieses Jahrbuch zu schaffen, ging es uns angesichts der wachsenden Bedeut­samkeit der europäi­schen Integration und des Macht­transfers auf dieser Ebene zunächst darum, dass die Infor­ma­tionen nicht auf eine allge­meine, oberfläch­liche Infor­ma­ti­ons­quelle beschränkt sind. Es gibt sehr viele Berufs­gruppen, die eine aktuelle, syste­ma­tische, detail­lierte, kritische Analyse zu den verschie­denen Sachver­halten brauchen. Nun haben Sie einen Experten in der Fische­rei­po­litik, Sie haben einen für Währungs­po­litik, Sie haben einen für öffent­liche Meinung. Das sind Spezia­listen und die müssen Sie in einen Arbeits­prozess bekommen. Angesichts der Komple­xität des Systems können Sie doch nicht sagen, ich kenne jemanden, der kennt ALLES in der europäi­schen Integration. Wir wollten eine Publi­kation, die die Topex­perten zu den einzelnen Fragmenten der Europa­po­litik, die dazu die Analysen liefern, versammelt. Damit diese Infor­ma­tionen aktuell bleiben, haben wir uns für ein Jahrbuch entschieden. Als wir mit dem Jahrbuch 1979 begonnen, haben renom­mierte Wissen­schaftler gesagt, das kann niemals funktio­nieren. Jetzt arbeiten wir an Band 37. Wir haben es also geschafft, dass die Topex­perten jeweils eine Analyse in einem gemein­samen Band abliefern. Über die Jahre haben wir das präzi­seste Geschichtsbuch zur europäi­schen Integration entwickelt.

Welche Herausforderungen in der europäischen Integration nehmen Sie aktuell wahr?

Die Politi­sierung der Sachver­halte und eine Drama­ti­sierung von Krisen­phä­no­menen sind sympto­ma­tisch. Natürlich hat es in früheren Jahren auch Krisen gegeben, aber die jetzige Krise ist etwas anderes. Die jetzige Krise entspricht zum ersten Mal nicht der Entwick­lungs­kurve früherer Krisen. Die erste große Krise war 1954, als die Europäische Vertei­di­gungs­ge­mein­schaft in der franzö­si­schen Natio­nal­ver­sammlung schei­terte. Weitere Krisen sind die geschei­terten Fouch­et­pläne 1961/62, die Politik des leeren Stuhls Frank­reichs 1965/66 und die Eurosklerose Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Diese Krisen haben immer eine ähnliche Verlaufsform gehabt, nämlich: Krise, Problem­druck, Lernprozess, Lösung oder Regelung. Jetzt haben wir zum ersten Mal eine Krise, wo das nicht stattfindet.

Warum?

Weil wir eine spezi­fische Kombi­nation von Sachver­halten haben. Wir haben auf der einen Seite das Zeitalter der Komple­xität, Europäi­sierung, Globa­li­sierung, Digita­li­sierung. Und dieses verbindet sich mit Kultur­pro­blemen. Über siebzig Prozent der Mitbürger sagen „Ich verstehe das alles nicht, was da abläuft.“ – wir sprechen also auch vom Zeitalter der Konfusion. In dieser Kombi­nation wird zum ersten Mal in einer Krise die Sinnfrage des gesamten Projekts aufge­worfen. Und darauf müssen Sie Antworten suchen. Das ist die große Heraus­for­derung. Was Sie im Alltag erleben, ist situa­tives Krisen­ma­nagement. Es ist ja nicht so, dass da nichts funktio­niert. Es fehlt der große strate­gische Entwurf. Da müssen wir im Jahrbuch der Europäi­schen Integration eben auch Strate­gie­ver­suche analy­sieren. Das ist bisher als Entwurf noch nicht gelungen.

Im Kapitel „Bilanz der Europäischen Integration“ gehen Sie auf dieses Thema ein. Sie sprechen über die Identität Europas oder die Suche danach. Und dann sprechen Sie von einer Kommunikationsgemeinschaft, einer Erinnerungsgemeinschaft und einer Erfahrungsgemeinschaft. Können Sie genauer darauf eingehen, was Sie mit den drei Begriffen meinen?

Die Frage ist, wie Europa sich selbst wahrnimmt. Wenn die Sinnfrage aufge­worfen wird, hängt die natürlich sehr stark mit der Frage zusammen: Was macht uns gemeinsam als Europäer aus? Der Papst sagt häufig: „Europa verliert seine Seele.“ Was macht die Seele Europas aus? Ein Element ist die fundierte histo­rische Selbst­wahr­nehmung. Wer sind wir eigentlich? Räume öffent­licher Selbst­wahr­nehmung Europas müssen geschaffen werden, auch mit intel­lek­tu­ellen Beiträgen, mit entspre­chenden Antwort­ver­suchen der Politik, mit entspre­chenden Beiträgen der Wissen­schaft, des Journa­lismus, der Massen­medien, sodass diese Art Selbst­er­fahrung intel­lek­tuell möglich wird. Das ist ein Stück der Arbeit am Zukunfts­projekt Europa. Dieses Europa hat ja, das sehen Sie in unserem Jahrbuch, über die Jahre verschiedene Gesichter.

Welche Gesichter Europas meinen Sie?

Wenn einer sagt, ich kenne Europa, und das ist nur so und so, alles andere gibt es nicht, ist das falsch. Es gibt verschiedene Gesichter. Ich will Ihnen Mal drei Gesichter nennen, die alle Realität sind und Sie finden zu allem in den Jahrbü­chern von 1980 bis heute Material. Das eine Gesicht ist Europa als Erfolgs­projekt, das große Friedens­projekt. Es hat in den Jahrzehnten innerhalb Europas keine Kriege gegeben, wirtschaft­licher Erfolg, die Überwindung der Teilung Europas, Magne­tismus auf außen­ste­hende europäische Mitglieds­kan­di­daten, die gerne Mitglied werden wollen. Das ist alles das Gesicht der Erfolgs­ge­schichte Europas.

Das zweite Gesicht ist der Pragma­tismus. Sie können von drama­ti­schen Krisen reden: dieser wankende Kontinent, die europäische Katastrophe – die Maschi­nerie geht einfach weiter. Schauen Sie ins Jahrbuch: Ungefähr 1,5 gesetz­ge­be­rische Entschei­dungen werden statis­tisch pro Tag gefällt. Es geht um Hygiene in Restau­rants, um Lebens­mit­tel­kenn­zeich­nungen, um Schei­dungs­recht, um Daten­schutz – alles Mögliche. Wir regeln weiter pragmatisch.

Das dritte Gesicht Europas ist die Krise. Das sehen Sie heute nicht zum ersten Mal. Es ist eine andere Variante von Krise, aber Krisen selbst haben wir bereits erlebt. Sie müssen eine Form der Selbst­wahr­nehmung erarbeiten. Wie ist die Selbst­be­hauptung Europas morgen? Übermorgen? Dazu müssen Sie Antworten erarbeiten. Dazu brauchen Sie Material. Dieses dichte Material haben Sie in aktuellster Form immer im Jahrbuch der Europäi­schen Integration greifbar.

Sprechen wir neben dem Jahrbuch über ein aktuelles Thema. Welche Ergebnisse erhoffen Sie sich von der zum 01.01.2017 übernommenen Ratspräsidentschaft Maltas? Haben Sie Erwartungen?

Von Malta als Ratsprä­sident sollte man nicht zu viel erwarten. Da geht es um die Fortsetzung von Routi­ne­pro­zessen, die auf der Tages­ordnung sind. Das ist der Nachteil dieser ganz kleinen Mitglied­staaten. Von denen den ganz großen histo­ri­schen Zukunfts­impuls zu erwarten ist eine Überfor­derung, einfach politisch. Es hat in früheren Jahrzehnten von Luxemburg aus, auch ein kleiner Mitglied­staat, solche Initia­tiven gegeben. Da war aber die Europäische Gemein­schaft noch nicht so umfang­reich. Aber das wäre heute weltfremd auf dieser Ebene. Wenn jetzt etwas in der Luft liegt, setzen sich die großen Führungs­staaten zusammen, um einen großen Schritt zu machen. Ich erwarte eher Routi­ne­ab­läufe und eine Fortent­wicklung aus dieser Gesamt­ma­schi­nerie der EU, aber nicht unbedingt von Malta. Der große Schritt für mich ist: Bratislava und Sicher­heits­fragen. Sicher­heits­po­litik hätte es vorher so nicht gegeben. Solange Großbri­tannien voll mit am Tisch saß, haben sie immer Sicher­heits­fragen ausgebremst.

Am 17. Januar wurde Antonio Tajani (EVP) zum neuen Präsidenten des europäischen Parlaments gewählt. Martin Schulz (S&D) hatte sich im Dezember mit einer Rede vom Europäischen Parlament verabschiedet, um in die deutsche Politik zu wechseln. Was erwarten Sie von einem zukünftigen Parlamentspräsidenten?

Die Legiti­ma­ti­ons­frage wird uns bei jedem weiteren Schritt begleiten. Ist das europäische Parlament legiti­miert, das zu tun? Insofern muss die Wahrnehmung des europäi­schen Parla­ments eine andere werden. Die Wahrnehmung der Mitwirkung der natio­nalen Parla­mente an der Europa­po­litik muss anders werden. Obwohl die Wahrnehmung in der Öffent­lichkeit sehr begrenzt ist, ist das Europäische Parlament der Gewinner im insti­tu­tio­nellen Konzert der letzten 20 Jahre. Die öffent­liche europäische Wahrnehmung hat sich verbessert, seit man bei der letzten Wahl 2014 zum europäi­schen Parlament zum ersten Mal einen richtigen Wahlkampf mit Spitzen­kan­di­daten geführt hat.

Hinzu kommt, dass das europäische Parlament sich zusätz­liche Macht erkämpft hat, die nicht im Vertrag drin steht. Dazu gehört eine Mitwir­kungs­mög­lichkeit für die Besetzung des europäi­schen diplo­ma­ti­schen Dienstes, der über Artikel 24 (EUV) hinausgeht. Als Zweites hat sich das europäische Parlament eine Initia­tiv­mög­lichkeit im infor­mellen Sinne von der Kommission erkämpft.

Die Problem­ka­te­gorien, die uns in nächster Zeit begleiten werden, sind aus meiner Sicht völlig klar: Legiti­mation und Trans­parenz. Der Vertrag von Lissabon ist nicht trans­parent. Man muss sich bemühen, die Vorgänge trans­pa­renter zu machen. Die Frage der Führungs­struktur ist schwer verständlich. Wer unter diesen fünf Präsi­denten, oder sonstigen Ämtern, wirklich das Sagen hat, weiß ja niemand.

Prof. Dr. Werner Weidenfeld ist Heraus­geber des Jahrbuchs der Europäi­schen Integration und sitzt im Kuratorium des Instituts für Europäische Politik. Er ist emeri­tierter Professor für Politik­wis­sen­schaften an der Univer­sität München und Direktor des Centrums für angewandte Politik­for­schung.

Das Interview führte Vivien Weigt.

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