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WiDi — 50 Jahre Institut für Europäische Politik

Am 1. und 2. Oktober fand anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Instituts für Europäische Politik die jährliche Exper­ten­tagung in Zusam­men­arbeit mit dem Wissen­schaft­lichen Direk­torium unter folgendem Titel statt: „50 Jahre Institut für Europäische Politik – 50 Jahre Integrationsforschung“.

Die ungefähr 60 Teilneh­me­rinnen und Teilnehmer der Veran­staltung, die in der Vertretung der Freien und Hanse­stadt Hamburg abgehalten wurde, debat­tierten rückbli­ckend und voraus­schauend Fragen der europäi­schen Integra­ti­ons­for­schung. Nach einem Rückblick auf die Vergan­genheit wurden die Lehren für die zukünftige Integra­ti­ons­for­schung anhand folgender Themen disku­tiert: „Vom Ordoli­be­ra­lismus zum Konsti­tu­tio­na­li­sie­rungs­pro­gramm?“, „Die Wirtschafts- und Währungs­union als europäische Antwort auf inter­na­tionale Währungs- und Finanz­krisen“, „Durch Expansion zur Weltmacht? Erwei­te­rungs­dy­namik und EU-Außenpolitik“.

Zu Beginn der Veran­staltung begrüßten der Vorsit­zende des Wissen­schaft­lichen Direk­to­riums, Professor Dr. Michael Kreile, und der Direktor des Instituts für Europäische Politik (IEP), Professor Dr. Mathias Jopp, die mehr als 60 Teilneh­me­rinnen und Teilnehmer der Tagung und gaben in ihren Eröff­nungs­bei­trägen einen kurzen Ausblick auf das Programm der zweitä­gigen Veranstaltung.

In seinem Grußwort übermit­telte Minis­te­ri­al­di­rigent Michael Clauß die Glück­wünsche des Auswär­tigen Amtes zum 50-jährigen Bestehen des IEPs und benannte die fünf aktuellen Heraus­for­de­rungen, vor denen die Europäische Union derzeit stehe: Vertrags­reform, Wirtschafts- und Finanz­krise, Klima­schutz, Außen­po­litik und EU-Erwei­terung. Abschließend dankte er dem IEP für die sehr gute und intensive Zusammenarbeit.

50 Jahre Institut für Europäische Politik – 50 Jahre Integrationsforschung

Professor Dr. Heinrich Schneider würdigte in seinem Eröff­nungs­vortrag die Arbeit des Instituts: vor 50 Jahren als Bildungswerk durch die Europa-Union gegründet, begleitet das IEP seither die europäische Integration. Schneider hob hervor, dass das IEP nun die „Priori­täten seines Wirkens neu definieren“ müsse, um sich weiterhin den Heraus­for­de­rungen der Gegenwart und Zukunft zu stellen und seiner eigenen „Integra­ti­ons­ver­ant­wortung“ gerecht zu werden. Als Wunsch äußerte er abschließend ein ‚Mehr’ an Phantasie in der EuropafWiDi_Programm_2009orschung. In seinem Kommentar unter­strich Professor Dr. Rudolf Hrbek die Leistung des IEPs als Plattform zwischen Wissen­schaft und Praxis sowie zwischen den Diszi­plinen. Arno Krause forderte mit Blick auf die Zukunft der Arbeit des Instituts eine Stärkung der Bezie­hungen zur Zivilgesellschaft.

Lehren aus der Vergan­genheit für die Integra­ti­ons­for­schung von Morgen

Das Panel mit dem Titel „Lessons of the Past – for the Research of the Future“ unter Vorsitz von Professor Dr. Wolfgang Wessels blickte auf die letzten Jahrzehnte der Integra­ti­ons­for­schung zurück und zog daraus Lehren für die Zukunft. Für Professor Dr. Gianni Bonvicini, der aus der Sicht eines italie­ni­schen Think Tanks berichtete, sind die zukünf­tigen Heraus­for­de­rungen an die Integra­ti­ons­for­schung der Aufbau von europa­weiten Forscher­netz­werken, die Wahrung unabhän­giger Forschung sowie die Förderung von Nachwuchs­wis­sen­schaftlern. Einen anderen Schwer­punkt setzte Professor Dr. Dr. h.c. Beate Kohler-Koch, die grund­le­gende Richtungs­fragen der europäi­schen Integration thema­ti­sierte. Unter anderem müsse die Forschung unter­suchen, welches Ausmaß natio­naler Vielfalt mit Integration vereinbar sein könne. Kohler-Koch fragte zudem nach der Bedeutung von Begriffen wie demogra­phi­scher Reprä­sen­tation und politi­scher Verant­wort­lichkeit im Kontext der Europäi­schen Union. Professor Dr. Simon Bulmer sprach zum angel­säch­si­schen Wissen­schafts­diskurs. Er betonte die Notwen­digkeit inter­dis­zi­pli­närer Forschung und weiterer Theorie­ent­wicklung, um den sogenannten „Elefanten“ Europäische Union besser zu verstehen.

Vom Ordoli­be­ra­lismus zum Konstitutionalisierungsprogramm

Der Vorsit­zende des Panels zum Thema „Europa­recht“ Professor Dr. Peter-Christian Müller-Graff betonte einleitend, dass sich die Narrative des Europa­rechts im Laufe der europäi­schen Integra­ti­ons­ge­schichte verändert hätten. Nachdem in den Gründungs­jahren die organi­sa­ti­ons­dog­ma­tische Erfassung des europäi­schen Gemein­wesens im Mittel­punkt europa­recht­licher Integra­ti­ons­for­schung stand, rückte mit der Gründung der Europäi­schen Wirtschafts­ge­mein­schaft (EWG) die Analyse funktio­neller Dynamiken in den Vorder­grund. Mit der Einführung der Direktwahl des Europäi­schen Parla­ments folgte schließlich ein drittes Analy­se­modell, dessen Haupt­au­genmerk auf der Konsti­tu­tio­na­li­sierung der Europäi­schen Gemein­schaften bzw. der Europäi­schen Union lag. Müller-Graff argumen­tierte, dass die skizzierte Abfolge europa­recht­licher Leitbilder jedoch von bestimmten Entwick­lungs­linien durch­brochen werde. So habe etwa das Leitbild der Konsti­tu­tio­na­li­sierung der Europäi­schen Union seit dem Scheitern des Verfas­sungs­ver­trages und der rheto­ri­schen Verab­schiedung des Verfas­sungs­topos an Attrak­ti­vität verloren.

In einer ähnlichen Perspektive stellte Professor Dr. Roland Bieber einen linearen Wandel der Bilder des Europa­rechts in Frage. Die europäische Rechts­ordnung verändere sich stetig, unter anderem aufgrund von Vertrags­än­de­rungen. Gleich­zeitig blieben die Frage­stel­lungen europa­recht­licher Integra­ti­ons­for­schung, wie jene nach den Wechsel­wir­kungen zwischen dem Recht der Union und mitglied­staat­lichen Rechts­ord­nungen, unver­ändert. Biebers Grund­these lautete demnach: Das Europa­recht zeichnet sich zwar seit jeher durch eine inhärente Tendenz zum Wandel aus. Aufgrund einer Konstanz der Frage­stel­lungen kann jedoch nicht von einer linearen Entwicklung gesprochen werden.

Professor Dr. Ulrich Hufeld widmete seinen Beitrag dem konstitutionalistisch/legitimierenden Ansatz des Europa­rechts. Er erläu­terte einleitend, dass Konsti­tu­tio­na­li­sierung beginne, wenn sich Toleranzen in Rechte umwandeln. Das Europa­recht vermittle bereits seit den frühen 1960er Jahren Freiheits­rechte statt Toleranzen. Der Primat der Freiheit, der durch das Prinzip des Vorrangs insti­tu­tionell abgesi­chert ist, bedeute für den Unions­bürger eine Reduzierung von Herrschaft. In diesem Sinne seien die europa­recht­lichen Grund­frei­heiten vor allem als eine Legiti­ma­ti­ons­res­source der Europäi­schen Union anzusehen, so Hufeld abschließend.

Die Wirtschafts- und Währungs­union als europäische Antwort auf inter­na­tionale Währungs- und Finanzkrisen

Die Teilnehmer des folgenden Panels mit dem Titel „Die Wirtschafts- und Währungs­union als europäische Antwort auf inter­na­tionale Währungs- und Finanz­krisen“ debat­tierten die Rolle der Wirtschafts- und Währungs­union (WWU) bei der Überwindung tiefgrei­fender Finanz­krisen. Dabei gingen alle Referenten insbe­sondere auf die aktuellen Gegeben­heiten ein, welche die Akteure der WWU vor völlig neue Heraus­for­de­rungen stelle. Überein­stimmend betonten die Teilnehmer des von Professor Dr. Rolf Caesar gelei­teten Panels, dass sich die WWU im Zuge der weltweiten Finanz- und Wirtschafts­krise als stabi­li­sie­render Faktor bewähren konnte. Eine Entkop­pelung von globalen Finanz­krisen, werde aber auch zukünftig nicht gelingen, weshalb sich wieder­ho­lende „Blasen“ am inter­na­tio­nalen Finanz­markt immer auch auf den Euroraum durch­schlagen würden. Professor Dr. Ansgar Belke stellte in seinem einfüh­renden Beitrag dar, dass die WWU dennoch auch in Zukunft im Vergleich zu den USA geldpo­li­tisch eine bessere Ausgangslage habe und der Euro im Hinblick auf die inter­na­tionale Leitwährung mittel- bis langfristig zum US-Dollar in Konkurrenz bleiben werde.

In seinem Panels­tatement erläu­terte Professor Dr. Wim Kösters, dass die Unabhän­gigkeit der Europäi­schen Zentralbank (EZB) für eine erfolg­reiche Geldpo­litik im Kontext der Finanz- und Wirtschafts­krise elementar ist und bleibe. Aufkei­mende Diskus­sionen mit Blick auf mögliche Beschränkung dieser absoluten Unabhän­gigkeit der EZB, sei mit größter Vorsicht zu begegnen. Als Vertreter aus der Politik äußerte sich Professor Dr. Klaus Gretschmann erfreut über den positiven und geeinten Umgang der Europäi­schen Union mit der globalen Finanz- und Wirtschafts­krise. Bei näherer Betrachtung handele es sich bei den Reaktionen der Mitglied­staaten jedoch vornehmlich um nationale und sektorale Krisen­be­kämp­fungs­in­stru­mente. Folglich müsse die politische Integration der Märkte des Euroraums über den Wirkungs­rahmen der WWU hinaus bis hin zu gemein­samen europäi­schen Finanz­in­sti­tu­tionen und einer gemein­samen Reprä­sentanz in globalen Finanz­in­sti­tu­tionen ein Ziel der nächsten zehn Jahre sein. Abschließend unter­strich Professor Dr. András Inotai, dass allein auf Geldpo­litik basie­rende Krisen­lö­sungs­me­cha­nismen zu gravie­renden Problemen, wie beispiels­weise einer ausnahmslos hohen Staats­ver­schuldung führten, so dass eine möglichst zügige Imple­men­tierung weiterer Exit-Strategien notwendig sei.

Durch Expansion zur Weltmacht? Erwei­te­rungs­dy­namik und EU-Außenpolitik

Das fünfte Panel der Exper­ten­tagung befasste sich mit dem Themen­be­reich „Inter­na­tionale Bezie­hungen: Durch Expansion zur Weltmacht? Erwei­te­rungs­dy­namik und EU-Außen­po­litik“. Der Vorsit­zende des Panels, Professor Dr. Michael Kreile, betonte, dass es sich bei den Themen­be­reichen Gemeinsame Außen- und Sicher­heits­po­litik (GASP) und EU-Erwei­terung um einen profil­bil­denden Forschungs­schwer­punkt des IEP handele. Als wichtigsten Problem­be­reich nannte er den Zielkon­flikt zwischen der erstrebten Handlungs­fä­higkeit der Union einer­seits und der Erwei­terung anderer­seits. Des Weiteren fragte er nach einem passenden außen­po­li­ti­schen Rollenbild für die Europäische Union. In Ihrem Vortrag betonte Dr. Elfriede Regels­berger, dass die Europäische Union weder ein außen­po­li­ti­scher Zwerg noch eine Weltmacht sei, jedoch über Akteurs­qua­lität verfüge. Bezüglich des Selbst­bildes der Union erkannte Regels­berger, dass der Begriff „Macht“ nur einmal, nämlich in der Dekla­ration von Laeken Verwendung fand. Dr. Barbara Lippert argumen­tierte in eine ähnliche Richtung, indem sie unter­strich, dass die EU-Erwei­terung in der Vergan­genheit nicht als strate­gi­sches Ziel der Macht­er­wei­terung verstanden, sondern erst 2004/07 mit diesem Ziel unterlegt wurde. Um eine ordnungs­po­li­tische Bedeutung auf dem Kontinent zu erhalten hält es Lippert weiterhin für notwendig, dass sich die Europäische Union von der „Politik der offenen Tür“ verab­schiede und ihr Instru­men­tarium im Rahmen der Europäi­schen Nachbar­schafts­po­litik entspre­chend anpasse. Abschließend erkannte Dr. Antonio Missiroli in der Erwei­te­rungs­po­litik der Union eine zufällige Außen­po­litik mit anderen Mitteln, die heute an einem Schei­de­punkt stehe: Es sei offen­sichtlich, dass diese Politik nicht mehr ausreiche, um Reformen in der Türkei oder den Staaten des Westlichen Balkans voranzutreiben.

Integra­ti­ons­for­schung auf dem Weg zu neuen Grenzen

Nach den inhalts­reichen und in Teilen kontrovers geführten Debatten der zweitä­gigen Konferenz widmete sich das Thema des Abschluss­panels unter dem Vorsitz von Professor Dr. Tanja Börzel Fragen aus der Praxis der aktuellen Europa­for­schung sowie den Lehren für die Zukunft: „Integra­ti­ons­for­schung auf dem Weg zu neuen Grenzen“. So betrachtete Professor Dr. Markus Jachten­fuchs Policy-Orien­tierung und Provin­zia­lismus als die zwei Gefahren der Europa­for­schung. Er bemän­gelte die fehlende Distanz zum Unter­su­chungs­ge­gen­stand und die zu starke Orien­tierung an der politi­schen Agenda. Demzu­folge forderte Jachten­fuchs mehr Mut zu streit­barer EU-Forschung und eine Abkehr von unkri­ti­scher Europa­gläu­bigkeit. Professor Dr. Carina Sprungk schloss sich dieser Argumen­tation an und betonte die Notwen­digkeit, die sui-generis Debatte zu überwinden, die ohnehin eine intern beschränkte Sicht­weise sei. Sprungk berichtete demge­genüber von der Außen­wahr­nehmung der europäi­schen Integra­ti­ons­for­schung, die beispiels­weise in den USA vielmehr als Teilbe­reich inter­na­tio­naler Politik gewertet werde. Wenn das politische System der Europäi­schen Union als gegeben angesehen werde, erklärte Sprungk, könne der Fokus der Integra­ti­ons­for­schung zukünftig stärker auf kompa­rative Politik­wis­sen­schaft und Regie­rungs­lehre gelegt werden.

Anschließend erläu­terte Professor Dr. Annette Töller, dass im politik­wis­sen­schaft­lichen „Mainstream“ ein quali­ta­tiver Turn, in der Integra­ti­ons­for­schung dagegen ein quanti­ta­tiver „Turn“ statt­ge­funden habe. Die zwei Varianten quanti­ta­tiver EU-Forschung (quanti­fi­zierend-beschrei­bende bzw. quanti­tativ-erklä­rende Studien) trügen beide zu einer stärkeren Überprüf­barkeit des tatsäch­lichen Einflusses der europäi­schen auf die nationale Gesetz­gebung bei. Töller verneinte zwar, dass ein nennens­werter quanti­ta­tiver Turn statt gefunden habe, unter­strich jedoch, dass die statis­tische Erfassung eine gewisse Syste­ma­ti­sierung und einen Erkennt­nis­gewinn ermög­liche, der Mythen­bil­dungen (z.B. 80%-Mythos zur EU-Gesetz­gebung) entgegen wirken könne. Aufgrund der Komple­xität des EU-System bleibe jedoch eine mangelnde Aussa­ge­kraft in einzelnen Bereichen. Einen abschlie­ßenden Blick auf praktische Problem­lagen trans­na­tio­naler EU-Forschung warf Gesa-Stefanie Brincker. Sie betonte, dass mit der Erwei­terung von 2004/2007 zwar zahlreiche neue Möglich­keiten der Koope­ration zwischen Wissen­schaftlern aus West- und Mittel­ost­europa entstanden seien. Den damit zu Tage tretenden Diver­genzen in den einzelnen Forschungs­kul­turen, welche die alltäg­liche gemeinsame Forschungs­arbeit erschwerten, werde jedoch noch nicht ausrei­chend begegnet.

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