Tagung in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftlichen Direktorium am 27./28. Juni 2002 im Jean-Monnet-Haus
Ziel der Tagung war es, sich mit den zentralen Aspekten der gegenwärtigen Verfassungs- und Reformdebatte auseinander zu setzen, wobei der Schwerpunkt auf der Arbeit des Verfassungskonvents lag. Hierbei wurde auf verschiedenen Podien auf das Arbeitsprogramm und die Perspektiven des Konvents, die verschiedenen nationalen Schwerpunkte in der Debatte sowie die Reform von Schlüsselpolitiken und die Finanzierung der Osterweiterung eingegangen.
Zu Beginn des ersten Panels zum Thema “Der Europäische Konvent: Arbeitsprogramm und Perspektiven” hob Prof. Dr. Klaus Hänsch, MdEP und einziges deutsches Mitglied im Präsidium des Europäischen Konvents, hervor, dass sich sowohl im Plenum des Konvents als auch im Präsidium die Auffassung durchgesetzt habe, dass der Konvent einen kohärenten Entwurf erarbeiten müsse und sich nicht auf die Vorlage von verschiedenen Optionen beschränken dürfe. Ob dies gelingt, bezeichnete Hänsch als Kernfrage der weiteren Konventsarbeit. Denn was im Konvent keine Zustimmung finde, könne auch auf einer Regierungskonferenz nicht gelöst werden. Da alle anstehenden Fragen Verfassungscharakter besäßen, sei es ein “kategorischer Imperativ” der Konventsarbeit jeden Vorschlag daraufhin zu überprüfen, ob er tragendes Element einer europäischen Verfassung werden könne. Einen Kompetenzkatalog werde es jedoch nicht geben und die Kompetenz-Kompetenz verbleibe bei den Mitgliedsstaaten. Allerdings müssten die Entwicklungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und im Bereich Justiz und Inneres institutionell eingefangen werden. Hänsch verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass der Integrationsprozess bis in die 1990er Jahre “binnenorientiert” gewesen sei und nun verstärkt eine “Außenkomponente” bekäme. Unter dem Vorbehalt der institutionellen Balance sei es daher denkbar, dass der Kommissionspräsident für die Innenaspekte und ein EU- Präsident für die außenpolitischen Aspekte der EU zuständig seien könnte.
Im Anschluss hieran warnte Prof. Dr. Wolfgang Wessels (Universität zu Köln) davor, zu früh in Euphorie zu verfallen. Denn trotz aller positiven Erwartungen sei die Gefahr nach wie vor gegeben, dass der Konvent letzten Endes doch wieder von den nationalen Regierungen dominiert werde und somit keinen Fortschritt gegenüber den letzten Regierungskonferenzen darstelle sowie ein noch komplexeres Regelwerk erwarten lasse.
Dr. Reinhard Schweppe (Auswärtiges Amt) verwies darauf, dass es für die Regierungen schwer sein werde, einen einheitlichen Konventstext substantiell zu verändern, da mit den nationalen Parlamentariern auch diejenigen am Konvent beteiligt seien, die eine Vertragsrevision später ratifizieren müssten. Zur Frage der zukünftigen Außenpolitik der Union führte er aus, dass seit Sevilla der nun umbenannte Rat für Auswärtige und Allgemeine Angelegenheiten auch für die Entwicklungshilfe zuständig seien werde. Dies zusammen mit einer Personalunion zwischen Hohem Repräsentanten und Kommissar für auswärtige Angelegenheiten könne ein erster Schritt in einem längerfristigen Plan zur Entwicklung einer gemeinsamen Außenpolitik sein, analog zu dem Stufenplan der Wirtschafts- und Währungsunion. In einem späteren Schritt könne man auch eine engere Zusammenarbeit der Auslandsvertretungen der Mitgliedstaaten und der Kommissionsdelegationen ins Auge fassen.
Im zweiten Panel stellte Prof. Dr. Jörg Monar (Universität Sussex) die britische Sichtweise dar, wobei er betonte, dass angesichts der überaus starken Stellung des Premierministers im politischen System Großbritanniens eine Neuordnung der EU nur dann auf Zustimmung stoßen werde, wenn der Europäische Rat die Schlüsselstellung einnähme. Allerdings solle man hieraus nicht schließen, dass Großbritannien die Rolle eines integrationspolitischen Bremsers einnehmen werde. Denn mit der Unterstützung der Ausweitung von Mehrheitsabstimmungen im Rat und der prinzipiellen Akzeptanz eines Verfassungsvertrages zeigten sich Tendenzen, die vor wenigen Jahren noch nicht zu erwarten gewesen wären.
Ausgehend von dem britischen Verständnis hob Prof. Dr. Rudolf Hrbek (Universität Tübingen) die generelle Problematik unterschiedlicher Verfassungsbegriffe und Grundverständnisse hervor, die nur durch einen intensiven Dialog in Einklang gebracht werden könnten. Dr. Christian Lequesne (Centre d’Etudes et de Recherches International, Paris) warnte im Anschluss daran davor, sich in abstrakten Debatten zu verrennen und dabei die Inhalte aus den Augen zu verlieren. Den zentralen Inhalt der europäischen Reformen sah er hierbei in der Frage, wie die Rolle Europas zwischen Globalisierung und Wohlfahrtsstaat aussehen solle. Nur wenn es gelänge, diese Frage zu lösen, werde Europa bei den Bürgern auf Akzeptanz stoßen. Die Frage der Akzeptanz stand auch im Zentrum des Beitrags von Jo Leinen MdEP, der diese aber weniger output- und effizienzorientiert, sondern eher input- und legitimitätsorientiert verwirklicht sehen will. Kernfrage sei hierbei die Erhöhung der demokratischen Legitimität der EU, welche nur über eine konsequente Stärkung des Europäischen Parlaments bzw. eine Parlamentarisierung der EU erfolgen könne.
Jérôme Vignon (Generalsekretariat der Europäischen Kommission) erklärte, die Kommission habe mit ihrem Vorschlag zum Konvent, der “Mitteilung der Kommission — Ein Projekt für die Europäische Union”, den Rubikon überschritten, wobei die interne Debatte vor Annahme der Kommissionsstellungnahme durchaus kontrovers gewesen sei. Besonders für den zweiten Pfeiler zeichnete sich Widerstand zu einem gewählten Vizepräsidenten der Kommission ab. Das Initiativrecht im Bereich der Außenpolitik sei teilweise als eine verfrühte Spektrumserweiterung gewertet worden, die die Gefahr einer zu starken Politisierung der Kommission berge und auf andere eher technisch regulative Bereiche ausstrahlen könne. Es sei aber im Übrigen ein Fehler, den Kommissionsvorschlag nur als einen Versuch zu sehen, die Befugnisse der Kommission zu Lasten anderer Institutionen zu vergrößern. Im Hinblick auf die Rolle der Wissenschaft und hier auch besonders des IEP bemerkte Vignon, dass Ende November 2002 — bevor die Arbeiten des Konvents in einen kohärenten Text gegossen werden müssten — der Bedarf an wissenschaftlicher Analyse sehr groß sein werde, um die teilweise politisch beeinflussten Vorschläge in ein stimmiges und nachhaltiges Gesamtkonzept zu bringen und mögliche Synthesen aufzuzeigen.
Im Panel zur Reform von Schlüsselpolitiken und der Finanzierung der Osterweiterung begrüßte Dr. Friedrich Heinemann (Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Universität Mannheim) die Zurückhaltung sowohl der Kommission als auch des IEP in seiner Stellungnahme vor den EU-Ausschüssen des Bundestages und Bundesrates bezüglich einer Steuerkompetenz der Union. Er begründete seine Ablehnung einer europäischen Steuer mit den geringen Anreizen für das Europäische Parlament zur fiskalpolitischen Disziplin. Als wichtigste Voraussetzung für eine mögliche EU-Steuer sah Heinemann die Umstrukturierung des EU Budgets weg von einem hauptsächlich umverteilenden Transfersystem.
Bei der Frage des Geldtransfers im Rahmen der Regionalpolitik nach der Erweiterung wies Prof. Dr. András Inotai (Institut für Wirtschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften) darauf hin, dass es viel wichtiger sei eine entsprechende Absorptionsfähigkeit für EU Mittel sicherzustellen als ständig über die exakte Höhe dieser Mittel zu diskutieren. Ebenso solle das “Phasing-in”-Prinzip für Strukturfonds auch für die Beitragszahlungen gelten. Prof. Inotai unterstützte nachdrücklich die Forderung der Beitrittkandidaten von Anfang an auch in der Agrarpolitik “Vollmitglied” zu werden, denn gerade der Druck der WTO und der USA zwinge zu einer schnellen Reform dieser Politik.
Für den Arbeitsmarkt und die Arbeitsmarktpolitik sah Prof. Dr. Kösters (Ruhr-Universität Bochum) keine Notwendigkeit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Kandidatenländer einzuschränken. Allein Deutschland benötige jährlich 300 000 Einwanderer. Unter diesem ökonomischen Gesichtspunkt gäbe es kein Migrationproblem. Prof. Kösters warnte davor, die Fehler der deutschen Wiedervereinigung bei der EU “Osterweiterung” zu wiederholen. Dies würde zu einem Transfer von 4,5% des BIP der EU bzw. 300 Milliarden Euro jährlich führen und als “Nicht-Migrationsprämie” wirken.
Dass dies nicht geschehen werde, betonte Dr. Barbara Lippert (IEP) und wies darauf hin, dass es eine Verdopplung der Transfers wie bei der “Süderweiterung” für die “Osterweiterung” nicht geben werde. Auch sei die Agenda 2000 besser als ihr Ruf und im Jahr 2007 werde die Strukturpolitik unter budgetären Gesichtspunkten wesentlich wichtiger als die Agrarpolitik. Dr. Barbara Lippert regte deshalb an, zukünftig stärker über die Regionalpolitik zu diskutieren.
Intensive Debatten prägen dagegen schon jetzt den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie den der Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (Universität Würzburg) konstatierte eine “Brüsselisierung” der GASP und sah ihre Entscheidungsmodi in einer längeren Übergangsphase hin zur Gemeinschaftsmethode. Sie prognostizierte, dass eine volle Einsatzfähigkeit der zivilen und militärischen Krisenmanagementkapazitäten erst in etlichen Jahren erreicht werde und sah die Gefahr, dass eine besser strukturierte ESVP die GASP abhängen könne, obwohl letztere die Führungsrolle übernehmen müsste. Dennoch sei keine weitere Militarisierung der EU-Außenpolitik zu erwarten. Die EU werde auch nicht zu einem zweiten Weltpolizisten avancieren.
Mittagsgespräch im Rahmen der Tagung des Wissenschaftlichen Direktoriums
“Der Europäische Rat von Sevilla und die Perspektiven der europäischen Verfassungsentwicklung”
Der EU-Gipfel von Sevilla stand im Zeichen der Debatte um eine gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik sowie institutioneller Reformen. Dr. Reinhard Schweppe analysierte die zentralen Ergebnisse des Gipfels und stellte sie in Beziehung zu den Positionen, die im Konvent zur Zukunft der Europäischen Union diskutiert werden. Die Zahl der Ratsformationen sei von 16 auf 9 reduziert und die Umbenennung des Allgemeinen Rats in den Rat für Auswärtige und Allgemeine Angelegenheiten beschlossen worden. Damit werde die EU ihre Außenangelegenheiten in einer größeren Gesamtperspektive wahrnehmen und sowohl außenpolitische, außenwirtschaftliche, entwicklungs- als auch verteidigungspolitische Aspekte besser koordinieren können. Dr. Schweppe betonte die große Bedeutung des Konvents für die Lösung der anstehenden institutionellen Fragen, wobei darüber hinaus auch Verbesserungsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle von Vertragsänderungen forciert werden sollten. Er hob hervor, dass die Europaabgeordneten im Konvent den größten Block gemeinsamer Interessen bildeten und schon deshalb ein auf weitere Integration zielendes Resultat möglich sei. Auch stelle der Konvent einen Paradigmenwechsel dar, weil durch die nationalen Parlamentarier zum ersten Mal auch diejenigen mit aushandelten, die später das Werk ratifizieren müssen. Deshalb werde sich in der nachfolgenden Regierungskonferenz viel stärker als bisher die Notwendigkeit ergeben, auf die Ergebnisse des Konvents Rücksicht zu nehmen. Andernfalls werde sich eine ernsthafte Gefahr für die Ratifikation eines neuen Vertrages ergeben.
Verfasser: Daniel Göler und Holger Moroff
Tagungsprogramm
“Europapolitische Weichenstellungen”
27./28. Juni 2002
Institut für Europäische Politik
Jean-Monnet-Haus, Bundesallee 22, D‑10717 Berlin
Donnerstag, 27. Juni 2002
“Der Europäische Konvent: Arbeitsprogramm und Perspektiven”
Begrüßung und Vorsitz
Prof. Dr. Michael KREILE, Humboldt-Universität zu Berlin
Einführungen
Prof. Dr. Klaus HÄNSCH MdEP, Mitglied des Präsidiums des Konvents
Dr. Reinhard SCHWEPPE, Ministerialdirektor, Leiter der Europaabteilung, Auswärtiges Amt, Berlin
Prof. Dr. Wolfgang WESSELS, Universität zu Köln
“Institutionelle Reformen und konkurrierende Verfassungsmodelle für Europa”
Vorsitz
Prof. Dr. Heinrich SCHNEIDER, Universität Wien
Einführungen
Prof. Dr. Jörg MONAR, Universität Sussex
Prof. Dr. Rudolf HRBEK, Universität Tübingen
Dr. Christian LEQUESNE, Centre d’Études et de Recherches Internationales, Fondation Nationale des Sciences Politiques, Paris
Jo LEINEN, Mitglied des Europäischen Parlaments, Brüssel
After-Dinner-Speech
“Stellungnahme der Europäischen Kommission zum Europäischen Konvent ‚Ein Projekt für Europa’ ”
Jérôme VIGNON, Europäische Kommission, Brüssel
Freitag, 28. Juni 2002
“Die Reform von Schlüsselpolitiken und die Finanzierung der Osterweiterung”
Vorsitz
Prof. Dr. Michael KREILE, Humboldt-Universität zu Berlin
Einführungen
Dr. Friedrich HEINEMANN, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Universität Mannheim
Prof. Dr. András INOTAI, Direktor, Institut für Weltwirtschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Budapest
Prof. Dr. Wim KÖSTERS, Ruhr-Universität Bochum
Dr. Barbara LIPPERT, Stellv. Direktorin, Institut für Europäische Politik, Berlin
Prof. Dr. Gisela MÜLLER-BRANDECK-BOCQUET, Universität Würzburg
“Schlussfolgerungen für die Arbeit des Instituts für Europäische Politik”
Prof. Dr. Michael KREILE, Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Mathias JOPP, Direktor, Institut für Europäische Politik, Berlin
Mittagsgespräch mit Dr. Reinhard SCHWEPPE, Ministerialdirektor, Leiter der Europaabteilung, Auswärtiges Amt, in Vertretung von Staatssekretär Dr. Gunter Pleuger
“Der Europäische Rat von Sevilla und die Perspektiven der europäischen Verfassungsentwicklung”
Diskussionsleitung
Dr. Jürgen TRUMPF, Generalsekretär a.D. des Rates der Europäischen Union, Bonn