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IEP-Mittagsgespräch mit Jo Leinen am 20. Oktober 2011: “Die Zukunft Europas – Wege aus der Krise”

Die Ereig­nisse im Zuge der Finanz­krise überschlagen sich und haben einen Stimmungs­wandel herbei­ge­führt: Wurde der Vertrag von Lissabon bei seiner Ratifi­kation als einer der Schluss­steine der europäi­schen Einigung angesehen, so vergrößert sich nun die Sorge um das Projekt Europa. Jo Leinen,  MdEP, Vorsit­zender des Ausschusses für Umwelt­fragen, Volks­ge­sundheit und Lebens­mit­tel­si­cherheit des Europäi­schen Parla­ments zu Gast beim Mittag­ge­spräch des IEP, regte deshalb an, die EU als ein Haus zu begreifen, das sich immer noch im Bau befindet.

Aller Kritik an der Währungs­union zum Trotz – der Vertrag von Lissabon habe einige weitrei­chende Änderungen gebracht. Diese seien zum einen im Bereich der Energie­po­litik zu verzeichnen. Hier gebe es inzwi­schen Kompe­tenzen der Union, so dass gemein­schaft­liche Regelungen nicht mehr über den Umweg des Binnen­marktes begründet werden müssen. Entscheidend sei nun, dass diese Regelungen durch eine neue indus­trielle Revolution und die Effizienz der Energie­nutzung erweitert werden. Ein wichtiges Projekt im Zuge der Energie­po­litik seien Konnek­toren, die die Strom­netze der Mitglied­staaten verbinden und auf diese Weise den Handel mit regene­ra­tiven Energien verein­fachten. Diese Entwick­lungen stünden in engem Zusam­menhang mit der Vorrei­ter­rolle der EU im Klimaschutz.

Zum anderen sei der Bereich der Innen- und Justiz­po­litik durch den Vertrag von Lissabon verändert worden. Dies würde im Bereich der Asyl- und Migra­ti­ons­po­litik deutlich. Angesichts der Tatsache, dass Migration eine gesamt­eu­ro­päische Aufgabe sei, seien 27 parallel existie­rende Politiken der Mitglied­staaten ohnehin nicht mehr zeitgemäß, betonte Leinen. Inzwi­schen sei ein Wille zu einer gemein­samen Asylpo­litik zu bemerken, die an die Einwan­de­rungs­po­litik gekoppelt ist.

Abgesehen von diesen dynami­schen Politik­feldern mit Trends zu gemein­schaft­lichen Regelungen, werden in den Gebieten der Gemein­samen Außen- und Sicher­heits­po­litik und der Finanz­po­litik Defizite deutlich. Zu großer Pessi­mismus in Bezug auf die Hohe Vertre­terin und den EAD sei aller­dings nicht angebracht. Abstim­mungs­schwie­rig­keiten ergäben sich zu einem beacht­lichen Teil dadurch, dass sich die neuen Struk­turen noch ‚in den Kinder­schuhen‘ befänden und die Mitglied­staaten immer wieder zu Allein­gängen neigten. In diesem Zusam­menhang sei auch die Enthaltung Deutschland bei der Entscheidung über die Resolution 1973 zu kriti­sieren. Verschiedene Positionen in Bezug auf die Ukraine und Palästina zeigten ebenfalls, dass es im Bereich der GASP noch schwierig sei, mit einer Stimme zu sprechen. Leinen unter­strich, dass die gemeinsame Linie der Unions­staaten unerlässlich sei: Die Welt wandele sich stetig und Europa solle bestrebt sein, seinen Einfluss gegenüber China und den USA nicht zu verlieren. Der Klima­gipfel in Kopen­hagen habe deutlich gemacht, dass die EU anderen­falls Beobach­terin des durch andere angetrie­benen Geschehens werde.

Angesichts der Heraus­for­de­rungen, die mit der derzei­tigen Krise der Eurozone verbunden seien, erwarte die Öffent­lichkeit „einen großen Wurf statt vieler kleiner Schritte“. Leinen vertrat die Ausfassung, dass durch gemeinsame Haushalts­pläne und Budget­kon­trolle die Voraus­set­zungen für eine Stabi­litäts- und Wachs­tums­union geschaffen werden sollten. Einer supra­na­tio­nalen Regelung stünden die Mitglied­staaten jedoch skeptisch gegenüber und Verän­de­rungen dieser Art seien nur durch eine Vertrags­än­derung zu erreichen. Zur Bewäl­tigung der derzei­tigen Krise seien zudem europäische Staatsanleihen/Eurobonds notwendig. Wichtig sei, dass diese mit scharfen Auflagen verbunden würden. So könne Speku­la­tionen vorge­beugt werden. Darüber hinaus sei die Einführung eines neuen Doppelhuts sinnvoll – der Amtsin­haber wäre dann gleich­zeitig Vizeprä­sident der Kommission und Vorsit­zender der Eurogruppe/Vorsitzender des Rats für Wirtschaft und Finanzen.

Leinen lenkte sodann die Aufmerk­samkeit auf einen weiteren Bereich, in dem die EU vor großen Heraus­for­de­rungen steht. So werde die Schere zwischen arm und reich immer größer. Angesichts einer Arbeits­lo­sen­quote unter Jugend­lichen von 20–40% in EU-Mitglied­staaten wie Spanien stelle sich die Frage, ob Europa eine ganze Generation verliere. Neben einem monetären Stabi­li­tätspakt fehle der EU ein sozialer Stabi­li­tätspakt (Sozialpakt).

Insgesamt sei die Diskussion über die Probleme und Heraus­for­de­rungen der EU unüber­sichtlich. Es fehle eine geeignete Plattform. Ein Konvent im kommenden Jahr sei die Lösung.

Zuletzt ging Jo Leinen auf eine verstärkte Betei­ligung der Bürge­rinnen und Bürger in der europäi­schen Politik ein. Die europäi­schen Parteien müssten gestärkt werden und Spitzen­kan­di­daten für das Amt des Kommis­si­ons­prä­si­denten aufstellen. Die Wahlen des Kommis­si­ons­prä­si­denten nähmen schon heute Züge von Koali­ti­ons­ver­hand­lungen an. In Bezug auf die Ernennung der Richter des EuGH solle über ein Vetorecht des EU-Parla­ments nachge­dacht werden.

Im Anschluss beant­wortete Jo Leinen Fragen der Teilneh­me­rinnen und Teilnehmer des Mittags­ge­sprächs zur Lebens­mit­tel­si­cherheit und Umwelt­po­litik sowie zum Sozialpakt und zur Griechenlandhilfe.