Sie lesen aktuell unserer Archiv. Die aktuelle Webseite befindet sich unter: iep-berlin.de
You are currently reading our archive. The current webseite is located at: iep-berlin.de/en/

IEP-Kommentar: Der Europäische Rat vom 22.–23. Juni 2017

© European Union

Es ist der erste EU-Gipfel, an dem der neu gewählte franzö­sische Präsident Emmanuel Macron teilnahm. Nicht nur seine Wahl an sich, sondern auch sein Appell an Deutschland im Vorfeld des Gipfels, eine „Allianz des Vertrauens“ zu schmieden, trägt zu einer positiven Aufbruchs­stimmung in der EU bei. Der  antieu­ro­päische Populismus hatte sowohl in Frank­reich als auch zuvor in den Nieder­landen einen Dämpfer erhalten, und in Großbri­tannien wird es nach der Wahlschlappe von Theresa May voraus­sichtlich zu einer konser­va­tiven Minder­heits­re­gierung kommen. Die insgesamt positive Stimmung wird auch durch die Tatsache unter­stützt, dass vor allem in der Eurozone das wirtschaft­liche Wachstum langsam zurück­zu­kommen scheint.

Vor dem Hinter­grund der jüngsten Terror­an­schläge in London, Paris und Brüssel standen die Themen Anti-Terror-Kampf und Sicherheit im Mittel­punkt des Gipfels. Beschlossen wurden eine effektive Bekämpfung von Gewalt­auf­rufen im Internet, wofür auch die Wirtschaft stärker mitein­be­zogen werden soll, und technische Neuerungen, die solche Gewalt­aufrufe ausfindig machen und automa­tisch löschen. Zudem soll wie schon oft betont der Infor­ma­tions- und Daten­aus­tausch verbessert werden.

Im Bereich der Vertei­di­gungs­po­litik wird die Einrichtung eines europäi­schen Fonds anvisiert, der Anreize für gemeinsame Forschung und Beschaf­fungs­pro­gramme in Bereichen wie Helikopter, Drohnen­auf­klärung und Satel­li­ten­über­wa­chung setzen soll. Der Fonds könnte nach Vorstellung der Kommission auf bis zu 5,5 Mrd. Euro in den nächsten Jahren anwachsen. Außerdem haben die Staats- und Regie­rungs­chefs beschlossen, die Ständige Struk­tu­rierte Zusam­men­arbeit (SSZ) zur Stärkung der europäi­schen Vertei­di­gungs­fä­hig­keiten zu nutzen. In den nächsten Monaten soll eine Liste von Kriterien und Projekten erstellt werden. Dieses Instrument des Lissa­bonner Vertrags ist bislang nicht genutzt worden, weil es eine hohe Verbind­lichkeit unter den Mitglied­staaten zur Folge hat und neben gemein­samen Rüstungs­pro­grammen auch zu schwie­rigen Militär­ein­sätzen führen kann. Doch müssen sich nicht alle Mitglied­staaten dazu verpflichten, denn der Rat kann mit quali­fi­zierter Mehrheit entscheiden. Die SSZ oder auch PESCO (Permanent Struc­tured Coope­ration) war ein Anliegen auf franzö­si­scher Seite neben den Themen Terro­ris­mus­be­kämpfung, Migration und Klima­schutz. Für Deutschland ist die Nutzung von PESCO zumindest für Rüstungs­pro­gramme inter­essant, während Militär­ein­sätze grund­sätzlich unter einem Parla­ments­vor­behalt stehen. Es wird erwartet, dass es in der Frage der Nutzung von PESCO bis Dezember d.J. zu konkreten Beschlüssen für eine um Deutschland und Frank­reich herum gebildete größere Gruppe von Staaten kommt, sodass sich in diesem Bereich in Kombi­nation mit der bereits Anfang Juni vom Rat beschlos­senen militä­ri­schen Planungs- und Führungs­einheit der EU eine neue sicher­heits­po­li­tische Handlungs­fä­higkeit der Europäer heraus­bilden könnte.

In der Frage des Umgangs mit Russland war es wichtig, die Einigkeit der EU zu wahren, indem die Sanktionen um ein weiteres halbes Jahr verlängert wurden. Dies sichert zumindest Konti­nuität in der Politik des „Westens“ durch ein gemein­sames Vorgehen mit den USA, wenn das vom ameri­ka­ni­schen Senat nahezu einstimmig beschlossene Sankti­ons­paket gegen Russland und Iran auch das Reprä­sen­tan­tenhaus passiert und von Trump unter­schrieben wird.

Weniger Kohäsion zwischen den EU-Mitglied­staaten zeichnete sich nach wie vor in der Migra­tions- und Asylpo­litik ab. Zwar soll das gemeinsame Asylsystem refor­miert werden, aber die Solida­rität unter den Mitglied­staaten hört wegen der Wider­stände von Ländern wie Polen, Slowakei und Ungarn bei der Frage der Verteilung der Flücht­linge auf, deren Beant­wortung für die Entlastung Italiens und Griechen­lands so wichtig wäre. Um dem Migra­ti­ons­druck stand­halten zu können, soll zumindest die Kontrolle der Außen­grenzen verbessert werden, wofür bereits ein europäi­scher Küsten- und Grenz­schutz aufgebaut wird. Zudem soll die Küsten­wache der Libyer, wie schon beim Frühjahrs­gipfel beschlossen, mit europäi­scher Unter­stützung – soweit das möglich ist – besser ausge­bildet und ausge­weitet werden.

Hinsichtlich Großbri­tannien zeichnet sich beim Brexit­thema eine Regelung für die 3,2 Mio. dort lebenden EU-Bürger ab, wenn sie bereits 5 Jahre in Großbri­tannien wohnen. Sie sollen keine Status­ein­bußen erfahren. Offen bleibt leider, welche Regeln für jene gelten, die weniger als 5 Jahre in Großbri­tannien leben, und wie die Übergangs­fristen gestaltet werden. Offen sind nach wie vor auch wegen der gerade erst begon­nenen Austritts­ver­hand­lungen die briti­schen Zahlungen beim Verlassen der EU und Fragen im Zusam­menhang mit der Lage Nordir­lands, wo durch die Errichtung neuer Grenzen alte Konflikte wieder­belebt werden könnten.

Beim Brexit geht es auch um die Stand­ort­ver­legung der in London ansäs­sigen Europäi­schen Arznei­mit­tel­agentur (EMA) sowie die Europäische Banken­auf­sicht (EBA). Hierüber herrscht leider große Uneinigkeit zwischen den Mitglied­staaten. Nach bishe­rigem Stand hat Deutschland großes Interesse daran, dass der Sitz der Banken­auf­sicht in die Bundes­re­publik verlegt wird. Ob dies erreicht werden kann, richtet sich nach den Kriterien des Auswahl­ver­fahrens, die aber für die Verlegung der EBA nach Frankfurt erfüllt sein dürften.

Der Blick auf die Wirtschaft und Wettbe­werbs­fä­higkeit fällt nach der Rückkehr des Wachstums in den meisten EU-Mitglied­staaten positiv aus. Dennoch sieht der Europäische Rat Handlungs­bedarf, um die gute Entwicklung des Binnen­markts zu festigen. Dazu zählt die Imple­men­tierung und konse­quentere Durch­setzung der bestehenden Gesetz­gebung. Auch der Europäische Fonds für strate­gische Inves­ti­tionen (EFSI) soll verlängert und gestärkt werden. In Handels­fragen sollen die derzei­tigen Verhand­lungen für faire und gegen­seitig vorteil­hafte Freihan­dels­ab­kommen, unter anderem mit Mexiko, dem südame­ri­ka­ni­schen Staatenbund Mercosur und dem Asien-Pazifik-Raum fortge­führt werden.

Erneut unter­streicht der Europäische Rat die Bedeutung eines multi­la­te­ralen Handels­systems mit der WTO im Zentrum. Dies versteht sich als klare Unter­scheidung von allen protek­tio­nis­ti­schen Ansätzen wie sie teilweise der ameri­ka­nische Präsident Trump vertritt. Aller­dings erteilen die Staats- und Regie­rungs­chefs der Kommission den Auftrag, die defen­siven Handels­in­stru­mente zu überprüfen und effek­tiver zu nutzen. Ob dies Trump zu fairer Handels­po­litik motivieren wird, bleibt offen und deshalb nur zu hoffen, dass in bestimmten Sektoren wie Stahl oder Futter­mittel ein europäisch-ameri­ka­ni­scher Handels­krieg vermieden werden kann.