Bürgerdialog: Für ein Europa der Zukunft?! — Gibt es eine europäische Identität?

Am Tag von Emmanuel Macrons erster Rede vor dem EU-Parlament, in der er erneut zur Weiterentwicklung der EU aufgefordert hat, wurde in der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin mit NachwuchspolitikerInnen deutscher Jugendparteien generationsübergreifend über eine europäische Identität und die Zukunft der EU diskutiert. Der Bürgerdialog wurde vom Institut für Europäische Politik, der Kommissionsvertretung in Deutschland sowie dem Grassroots-Thinktank Polis180 initiert. Diskussionsgrundlage der Veranstaltung war das vom Netzwerk „Alternative Europa!“ veröffentlichte Papier, in dem die Substanz und Entwicklung einer europäischen Identität inkl. konkreter Handlungsvorschläge zur Stärkung einer europäischen Identität vorgestellt werden. Zu den Podiumsgästen zählten Malte Fiedler von der Linksjugend[´solid], David Jahn von den Jungen Liberalen, Jonas Littmann von den Jusos, Jenna Behrends von der CDU Berlin Mitte,und Moritz Heuberger von der Grünen Jugend. Der Bürgerdialog wurde im offenen Fishbowl-Format veranstaltet. Die Begrüßung übernahm Patrick Lobis von der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin sowie Carolin Marx vom Institut für Europäische Politik. Moderiert wurde die Veranstaltung von Clara Kemme von Polis180.
In dem Diskussionspapier des Netzwerks „Alternative Europa!“ wird das Entstehen einer europäischen Identität als Ergänzung zu den bestehenden nationalen Identitäten als Grundlage für eine stärkere EU mit Rückhalt in der Bevölkerung vorgeschlagen. So könne unter anderem der Zusammenhalt innerhalb der EU gestärkt werden. Dafür wurden konkrete Handlungsempfehlungen aus den Bereichen Partizipation, Öffentlichkeit, Solidarität und ein europäisches Narrativ genannt.
In Anbetracht des Erstarkens von populistischen und europaskeptischen Parteien in Europa wurde die Entstehung einer europäischen Identität, vor der Frage nach der Legitimität der EU und ihrem Nutzen für die BürgerInnen der EU kontrovers von allen VertreterInnen der Jugendparteien diskutiert. Beispielsweise wurde die Frage debattiert, ob die Bedeutung der EU und die Bürgernähe der EU durch eine europäische Identität auch ausserhalb von den Hauptstädten gesteigert werden könne. Darin sahen alle PanelistInnen eine Chance, europaskeptischen und nationalistischen Ressentiments entgegenzuwirken.
Über die Bedeutung einer gemeinsamen europäischen Identität gab es klare Differenzen zwischen den JungpolitikerInnen. David Jahn, Junge Liberale, und Jenna Behrends, CDU Berlin Mitte, halten parallel existierende regionale, nationale und europäische Identitäten für ein wichtiges Instrument, um den Zusammenhalt auf allen regionalen Ebenen zu stärken und mehr Bürgernähe innerhalb der EU zu erzeugen. Dagegen haben Malte Fiedler, Linksjugend[´solid], und Moritz Heuberger, Grüne Jugend, das Konstrukt von regional definierten Identitäten grundsätzlich in Frage gestellt. Sie kritisieren, dass BürgerInnen leider zu wenig europäische Gemeinsamkeiten teilen, nur weil sie an einem gemeinsamen Ort leben. Außerdem würden regional verankerte europäische Identitäten BürgerInnen an anderen Wohnorten prinzipiell eher ausschließen, als verbinden. Stattdessen entstehen europäische Identitäten zum Beispiel eher über materielle Gemeinsamkeiten oder gemeinsame Interessen, die jedoch keinerlei Hierarchie unterliegen sollten. Aus dem Publikum kam hier der Einwand, dass solche Konstrukte gruppenübergreifender Solidarität nicht gleichzusetzen seien mit einer europäischen Identität. Eine europäische Identität hätte den Vorteil, dass sie uneingeschränkt alle Menschen innerhalb einer Region verbindet und mehr Zusammenhalt herstellen könnte. Außerdem könnten mit einer europäischen Identität nationale Ressentiments besser überwunden werden, als interessenbasierte Identitäten. Letztere bieten ohne weitere Ergänzung keine europäische Grundlage für vertieften Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft. Der Möglichkeit, ein europäisches Bewusstsein durch transnationale Austauschprogramme zu erhöhen, die jedoch allen Bildungsschichten zugänglich wären, stimmten alle DiskussionsteilnehmerInnen zu. Zudem forderte das Publikum dazu auf, dass sich die Politik der EU näher an den Bedürfnissen aller EU-BürgerInnen ausrichten sollte, um ihre Wahrnehmung und Bedeutung innerhalb der EU-Bevölkerung zu optimieren.
Neben der Bedeutung und Wahrnehmung von unterschiedlichen nationalen Identitäten, wurde auch über die zukünftige Zielsetzung der EU gesprochen. Dabei wurde über die Vision von einem europäischen Bundesstaat diskutiert. Fast alle JungpolitikerInnen wünschten sich eine vertiefte und vor allem bürgernahe Diskussion über die zukünftige Ausrichtung der EU. Der Überbau einer transnationalen Vereinigung zur Friedenssicherung sei zwar von großer Bedeutung und weiterhin relevant, aber gerade für die junge Generationen in der EU bedarf es einer umfangreicheren Debatte zur Legitimierung der EU. Stattdessen wurde aus dem Publikum und von Jusos, Grüner Jugend und Linksjugend[´solid] vorgeschlagen, die Beseitigung sozialer Ungleichheit zum zentralen Thema der EU festzulegen. Hier könnte eine europaweite Sozialpolitik ein Inkubator sein. Eine europäische Sozialpolitik würde die unmittelbare Lebensrealität der EU-BürgerInnen spürbar betreffen und einen europäischen Mehrwert für jede/n einzelne/n EU-BürgerInnen darstellen. Hierdurch könne die EU an Bürgernähe gewinnen und zur Legitimation der EU beitragen. Ein weiterer wichtiger Schlüssel zu mehr Bürgernähe der EU sei die Stärkung der europaweiten Partizipationsmöglichkeiten und der Abbau des Demokratiedefizits innerhalb der EU. Auch solle die EU aktiver agieren, statt sich von ihren KritikerInnen treiben zu lassen. Die EU könne zum Beispiel ihre starke Stellung nutzen, um eine sozialökologische Transformation voranzutreiben. Alternativ kam aus dem Publikum der Vorschlag, eine gemeinsame innere/äußere Sicherheit innerhalb der EU zu den Top-Prioritäten anzuerkennen. Das Publikum sowie alle Podiumsgäste waren sich einig, dass es dringend an der Zeit ist über grundsätzliche Reformen innerhalb der EU nachzudenken und die Verträge ggf. abzuändern. Emmanuel Marcon hat viele visionäre Vorschläge für die erfolgreiche Fortsetzung des europäischen Projekts aufgezeigt. Grundlegende Reformen könnten die Rolle der BürgerInnen als Souverän der EU-Politik hervorheben und die Unterstützerrolle der EU im Alltag der BürgerInnen sichtbarer machen. Gemeinsam mit der Zivilgesellschaft sollte die EU die Zukunft visonär und ideenreich angehen, um die Zukunft Europas erfolgreich zu bestreiten.